Über uns

Immer wieder neu: Gerechtigkeit

Bereichsleiter Kommunikation, Sekretär Interreligiöser Runder Tisch im Kanton Zürich
Simon Spengler

Gesamtverantwortung Kommunikation der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Katholischer Theologe und Journalist.

Simon Spengler
In den letzten Wochen komme ich mir oft vor wie ein Sekretär eines Statistik-Büros. Fast täglich gebe ich Auskunft über Zahlen. So viele Austritte, so viele Prozente Mitgliederschwund, so viele Prozente Bevölkerungsanteil, so viele Millionen Einnahmenrückgang bei diesem oder jenem Szenario, so viele Millionen gesamtgesellschaftliche Leistungen der Kirche, so viele Millionen Steuern, so viele Millionen Staatsbeiträge: Zahlen, Zahlen, Zahlen.
09. November 2023

Und ich frage mich immer öfter: Lässt sich Sinn und Zweck von Kirche hinreichend in Zahlen bemessen? Natürlich, wir dürfen nicht realitätsblind so tun, als ob uns Zahlen nicht interessieren müssten. Aber ist diese Erbsenzählerei wirklich alles? Wie würde man die Relevanz Jesu in den kurzen Jahren seines öffentlichen Wirkens bemessen? Waren es hundert Anhängerinnen und Anhänger, die er überzeugen konnte? Oder zweihundert? Viel mehr kaum, am Schluss fast keine mehr. Und auch die ersten christlichen Gemeinden rund ums Mittelmeer waren extreme gesellschaftliche Minderheiten, oft genug in ihrer Existenz bedroht.
 
Das lässt sich alles nicht vergleichen, höre ich jetzt schon als Einwurf. Trotzdem frage ich mich, ob zahlenmässiger «Erfolg» der Gradmesser kirchlichen Wirkens ist. «Erfolg ist keine Vokabel Gottes», sagte mir mal ein weiser Mönch. In unserem Gründungsdokument, der Bibel, finde ich eine ganz andere Messlatte: «Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch dazugegeben», heisst es bei Matthäus (6,33). Zuerst und immer wieder neu haben wir als christliche Gemeinde für Gerechtigkeit im Sinne des Reiches Gottes einzutreten, jedes andere Kalkül kommt immer nur danach.

Die Luzerner Synode entschied bekanntlich, dem Basler Bischof Gelder zu streichen, wenn nicht bald die Forderungen bezüglich Missbrauchsbekämpfung umgesetzt werden. So unsympathisch mir die Drohung mit dem Geldhammer ist, so habe ich doch auch ein gewisses Verständnis. Welches andere Mittel hätte die Synode denn im herkömmlichen Verständnis unseres «dualen Systems», wo demokratische Körperschaften für Finanzen, die kirchlichen Hierarchen aber für die Inhalte zuständig sind? Hier zeigt sich die Schattenseite dieses Dualismus. Und mit ihr die höchste Dringlichkeit, endlich eine synodale Kirche konkret werden zu lassen, die nicht getrennt ist in zwei Abteilungen. Die Handreichung des Bistums ist dazu ein allererster Schritt. Aber noch nicht mehr. Ich wundere mich allerdings sehr über das Schweigen der Synode im Zwingli-Kanton, die in dieser tiefsten Kirchenkrise seit der Reformation bis jetzt noch keine Worte gefunden hat.

Wir reden in den letzten Monaten und Wochen viel über Kultur- und Strukturwandel in der Kirche. Alles wichtig und dringlich. Aber der tiefste Strukturwandel unserer Kirche wäre vielleicht, wenn all diese Fragen zuerst in der Perspektive des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit angegangen würden, die Frage nach der Gleichberechtigung, nach dem Ende jeder Diskriminierung durch unsere eigenen Gesetze, die nicht die Gesetze Gottes sind, die Frage, ob und wie und wann wir uns politisch einbringen sollen beziehungsweise müss(t)en.

Schon stehen wir mitten im Heute. Unsere Bischöfe reisen regelmässig nach Israel und Palästina, um ihre Solidarität mit den (meist palästinensischen) Christen zu zeigen. Warum schweigen sie jetzt? Was gäbe es in Hinblick auf die Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu sagen? Nichts? Eine Lösung dieser grauenhaften Situation können wir weder aus dem Hut noch aus der Bibel zaubern. Aber könnte es Aufgabe der Kirche sein, in Zeiten, in denen jede Verständigung blockiert, Missverständnisse bewusst geschürt, Antisemitismus im Gewand von Palästinasolidarität daherkommt, Muslimfeindschaft hinter Israelverteidigung versteckt wird, zumindest Räume für ehrlichen Dialog offen zu halten, statt uns kritiklos auf die eine oder andere Seite zu schlagen? Haben wir den Mut, in diesem hoffnungslosen Krieg die Frage nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu stellen?
 
Dürfen wir zusehen, wie auch bei uns Brücken abgebrochen werden, die über viele Jahre im Interreligiösen Dialog vertrauensvoll errichtet wurden? Ich denke da direkt an den unseligen öffentlichen Streit um Rifa’at Lenzin, die sich seit vielen Jahren für Verständigung eingesetzt hat.

Wer in diesen schlimmen Zeiten ein Beispiel für einen wirklich tiefgründigen und ehrlichen Dialog sucht, dem kann ich nur den Podcast mit dem jüdischen Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfuss und der palästinensischen Journalistin Alena Jabarine empfehlen. Vorsicht, das Gespräch dauert fast drei Stunden. Aber jede Minute lohnt sich! Und auch wenn in einzelnen Passagen über die Situation in Deutschland gesprochen wird, so lässt sich das mühelos auf die Schweiz übertragen.

Wer nach dieser schweren Kost nach Verdaulicherem hungert, dem sei das Video über den Hindupriester und Koch Sasikumar Tharmalingam empfohlen, der im Berner Haus der Religionen gemeinsam mit Rabbiner Michael Kohn ayurvedisch-koscher kocht. Wäre es nur immer so schmackhaft im interreligiösen Miteinander.

Männer am Herd auf der Suche nach ihrer Rolle in einer gendergerechten Welt, das bringt mich noch auf ein anderes Thema. Beim Thema «Männer in der Kirche» denkt man sofort an Kleriker. Doch sind ja real die allerwenigsten männlichen Kirchenmitglieder Priester oder Diakone. Aber spezielle Angebote für ‘normale’ Männer und Väter sind in unserer Kirche selten. Eine neue ökumenische Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext will dem abhelfen. In ihrem Newsletter weisen sie regelmässig auf entsprechende Angebote hin.

Geweihte Kirchenmänner stehen bekanntlich im Fokus der aktuellen Kirchendebatten. Auch wenn ich selbst mit Klerikalismus (hoffentlich) nichts zu tun habe, so irritiert mich doch ein Aufruf der «Allianz gleichwürdig katholisch», Seelsorgende sollten als Zeichen gegen Klerikalismus im Gottesdienst ihre liturgischen Gewänder abziehen. Für mich darf auch künftig eine Liturgie anders aussehen als eine Bürgerversammlung. Liturgisch stimmiger fände ich, wenn alle Personen, Männer wie Frauen, die im Gottesdienst priesterliche Funktionen am «Tisch des Wortes» oder am «Tisch des Brotes» verrichten, auch priesterlich gekleidet sind. Statt «Albe ab!» gefiele mir «Stola an!» besser. Das ist natürlich nur meine persönliche Meinung, die sicher nicht repräsentativ ist.  Aber im Hinblick auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit ist das auch nicht die drängendste Frage.
 
Ich wünsche uns allen einen besinnlichen Sonntag, an dem auch die diesjährige «Woche der Religionen» zu Ende geht.

Shalom, Salam aleikum!
Simon Spengler

Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.

Sie können den Newsletter hier abonnieren