Kirche aktuell

Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Mitten im Nahost-Konflikt

Abt Nikodemus Schnabel erlebt Hass und Gewalt in einer neuen Dimension – inmitten des Nahost-Konflikts ebenso wie über soziale Medien auch aus dem Ausland. Ein Gespräch über die aktuelle Lage, die Rolle der Benediktinermönche und Visionen einer möglichen Zukunft.
09. November 2023 Katholische Kirche im Kanton Zürich

 

Lesen Sie diesen und weitere Artikel im
aktuellen Pfarrblatt forum

 

Wie nehmen Sie die Situation vor Ort in Israel wahr?
Abt Nikodemus Schnabel: Ich habe zwei Klöster, denen ich vorstehe – das eine in Jerusalem, wo ich gerade bin, und das andere in Tabgha am See Genezareth. Die Situation ist unterschiedlich. 
In Jerusalem ist es fast surreal ruhig. Wenn ich abends durch die Strassen gehe, sehe ich mehr Katzen als Menschen. Anders ist es im Kloster Tabgha, im Norden des Landes, direkt an der libanesischen Grenze. Dort befindet man sich in einem gespannten Wartemodus, man hört in der Ferne, dass die Hisbollah schiesst und Israel dagegenhält.

f23_2023_p05_NikodemusSchnabel_kna_vej-2000x1152.jpg

Wie kommt es, dass es in Jerusalem derart ruhig ist?
Jerusalem ist eine multireligiöse Stadt, in der Juden, Christen und Muslime leben. Es herrscht nun wieder dieses Grundmisstrauen voreinander. Man traut dem anderen nicht mehr über den Weg. Ich erlebe das, wenn ich in der Stadt unterwegs bin. Die wenigen Menschen, die da sind, beäugen sich kritisch, man schaut, dass man grösstmöglichen Abstand voneinander hält.

Heisst das, der Kriegsausbruch hat die Menschen auch untereinander gespalten?
Ja, leider nehme ich das so wahr. Es gibt natürlich auch die wunderbaren Menschen, die sagen: Wir lassen uns jetzt nicht auseinanderbringen, wir lassen die Logik des Hasses nicht gewinnen.

Und im Kloster Tabgha?
Die Grenzorte zum Libanon wurden evakuiert. Da stellt sich die Frage, wie weit wir den Menschen im Norden helfen können. Konkret haben wir seit Kriegsbeginn eine grosse Gruppe jüdischer Behinderter aus dem Süden, aus Be’er Scheva, aufgenommen, für die es wegen ihrer eingeschränkten Mobilität ganz schwierig ist, bei Luftalarm in die Bunker zu flüchten. Das Kloster Tabgha ist seit Jahrzehnten bekannt dafür, eine Urlaubsoase für Behinderte zu sein. Wir sind deshalb entsprechend eingerichtet.

Die Kriegslogik möchte einen zwingen, sich im Konflikt auf eine Seite zu stellen. Wo stehen Sie und ihre Mitbrüder? Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Genau dieser massive Druck, nur noch «schwarz-weiss» zu sehen, ist momentan immens anstrengend. Es gibt kein Verständnis für Grautöne. Mein Credo und das Credo meiner beiden Klöster war immer: Wir sind weder pro Israel noch pro Palästina – wir sind pro Mensch. Wir wollen weiterhin für alle Menschen da sein, und wir versuchen aktiv, allen Menschen im Heiligen Land beizustehen. Für diese Haltung – die für mich absolut selbstverständlich ist, weil sie im Gottes- und Menschenbild aller drei abrahamitischen Religionen gründet – bekomme ich momentan ganz viel Hass, vor allem auf den sozialen Medien. Ich werde angegangen, warum ich mein Profilbild nicht in eine Israelflagge oder in eine Palästinaflagge umwandle, warum ich keine klare, harte Kante zeige, sondern stattdessen von Menschlichkeit und Frieden rede. Ich werde von vielen Seiten gedrängt, dass es jetzt heisse, Flagge zu zeigen, dass es jetzt heisse, Stellung zu beziehen, unter dem Motto: Jetzt kommt es darauf an, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

f23_2023_p03_Dormitio-Abtei_iStock_vej-1647x1098.jpg

Kommt dieses hasserfüllte Drängen von Einheimischen oder aus dem Ausland?
Von aussen. Ich bin ja mit vielen Menschen in Kontakt. Ich erlebe es massiv aus dem deutschsprachigen Raum, von dort her bekomme ich momentan sehr viel Hass. Zum Beispiel habe ich an einer Stelle an die Arbeitsmigrantinnen und -migranten erinnert, die beim Massaker der Hamas ermordet wurden und von denen viele Christen waren. Daraufhin wurde mir von Leuten in sozialen Medien vorgeworfen – ich übersetze es jetzt höflich – dass ich um Christen trauere. Ob wir denn bitte mal nur eine Woche lang ausschliesslich um Juden trauern könnten?! Für mich heisst das, dass mir diese Fussnote verboten wird, die mir wichtig ist. Ich finde das unerträglich. Offen gestanden auch, dass mir Menschen, die jetzt in Deutschland schön in ihren gemütlichen Sesseln sitzen, gerade versuchen, die Welt zu erklären.

Erreichen Sie solche – oder andere – Stimmen auch aus der Schweiz?
Aus der Schweiz erhalte ich vor allem Zuschriften, die mich ermutigen. Das tut in diesen Tagen wirklich gut.

Ist dieser hasserfüllte Druck aktuell eine neue Dynamik?
Ich lebe jetzt seit 20 Jahren in Jerusalem und muss leider sagen, dass das «Schwarz-Weiss» immer aufbricht in Konfliktsituationen. Aber jetzt hat es schon eine neue Dimension erreicht.

Wie gehen Sie mit dem Anspruch um, sich auf eine Seite zu schlagen?
Ich kann nur sagen, ich bleibe meiner Linie treu: Es geht um die Menschen, und zwar um jeden Menschen – vor allem um die vulnerabelsten, gleich, welcher Religionszugehörigkeit, Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsstatus.

Wie gefährlich ist diese Haltung?
Ich halte sie für überhaupt nicht gefährlich. Ich halte sie für den Ernstfall meines Glaubens und für den Ernstfall dessen, was ich hier tue.

Sind Sie allein mit dieser Haltung – oder gibt es andere religiöse Verantwortungsträger, die sich ähnlich verhalten?
Zum Glück bin ich nicht allein. Als Kirche im Heiligen Land können wir auch gar nicht einseitig sein, weil unsere Gläubigen überall sind! Allein das römisch-katholische Patriarchat, zu dem ich gehöre, umfasst alle Seiten: Wir haben die grosse Mehrzahl Arabischsprechender, meist palästinensischer Christen, wir haben die Gläubigen der Pfarrei «Heilige Familie» in Gaza, wir haben aber auch Hebräischsprechende Katholiken, das sind dann oft Ehepartner von Juden, und dann sind da philippinische, indische, srilankische und andere katholische Migrantinnen und Migranten, die meist in der Pflege oder in der Landwirtschaft arbeiten. Ausserdem sind da die «Profichristen» wie die deutschen Benediktiner, die französischen Dominikaner, die US-amerikanischen Jesuiten, die italienischen Franziskaner … wir haben rund 600 Ordensmänner und rund 1000 Ordensfrauen hier. Christinnen und Christen sind überall in diesem Land und auf allen Seiten, und zwar oftmals unter den Schwachen, Armen und Wehrlosen.

Kann ein religiöser Ort wie die Dormitio-Abtei in diesem Konflikt eine Vermittlerrolle übernehmen?
Das wäre wohl eine masslose Überschätzung der Bedeutung dieses Klosters. Natürlich bleibt die Dormitio ein Ort, der für den Dialog jederzeit offensteht. Wir tun das, was wir tun können: Unsere Kirche ist offen, unsere Gebetszeiten sind weiterhin öffentlich. Die Cafeteria ist offen. Der Laden ist offen. Dasselbe gilt für das Kloster in Tabgha. Klar: ökonomisch gesehen ist das ein Wahnsinn. An guten Tagen kommen sonst bis zu 5000 Pilgerinnen und Pilger – jetzt sind es ungefähr zehn.

Was bewegt Sie dazu, Ihre Orte offen zu halten?
Wir wollen eine Oase der Hoffnung und des Trostes sein, mitten in der Schockstarre, in diesem Klima der Angst. Wir sagen: Egal wer kommt – herzlich willkommen. Wir fragen nicht: Bist du Jude, Christ oder Muslim? Wir schauen nicht, ist dein Visum abgelaufen oder noch gültig? Wenn du Mensch bist: komm! Allerdings: Wir haben einen Wächter, wir sind also ein bewachter Ort. Wer bei uns über die Türschwelle kommt, soll wissen: Hier bin ich an einem geschützten Ort, hier kann ich in Ruhe in der Kirche sein, hier darf ich angstfrei sein. Die Dormitio-Abtei hat sehr dicke Mauern, sie ist also auch psychologisch ein Ort, der Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Und wenn jemand ein Gespräch sucht, findet er in der Cafeteria immer einen Mönch, der zuhört.

Als Benediktiner sind Sie der «stabilitas loci» verpflichtet, bleiben also ihr Leben lang an einem Ort. Macht Ihnen das gegenwärtig auch Angst?Angst habe ich zum Glück nicht, auch bei meinen Mitbrüdern spüre ich keine Angst. Wir haben uns natürlich in vollkommener Freiwilligkeit für diesen Ort entschieden, auch wissend, dass das ein Ort ist, der durchaus nicht ohne Spannung ist. Was mich allerdings stark beschäftigt, ist die Sorge um die mir anvertrauten Menschen: meine Mitbrüder, unsere Studierenden, von denen die Mehrzahl noch da ist, unsere Mitarbeitenden, von denen nun einige im Kloster wohnen, weil sie Angst haben, nach Hause zu fahren. Und unsere deutsche Auslandsgemeinde, die Diplomaten, Expats und Journalistinnen, die Migrantinnen und Asylsuchenden. Alles Menschen, die glauben, dass ein Zusammenleben möglich ist, und die jetzt leiden unter diesem brutalen Hass.

Wie könnte sich dieser Konflikt im besten Fall entwickeln – und wie im schlimmsten Fall?
Ich bin Christ, ich bin Optimist und ein hoffnungsfroher Mensch, deswegen bin ich auch hier. Jerusalem ist eine Sehnsuchtsstadt, in die Juden, Christen und Muslime voller Sehnsucht kommen, um zu beten. Das fasziniert mich an dieser Stadt. Ich glaube, jetzt braucht es eine echte Vision, und jetzt wird auch klar, so wie bisher kommen wir nicht weiter. Es sind zwei Grundsehnsüchte da. Im besten Fall werden diese benannt – und die Frage angegangen, wie beide sich verwirklichen lassen: Es ist da die grosse Sehnsucht der Israelis nach Sicherheit und es ist da die grosse Sehnsucht der Palästinenser nach Freiheit. Konkret heisst das: Wie kann Israel ein gesicherter Staat sein, ohne die Freiheitssehnsucht der Palästinenser zu ignorieren, und wie können die Palästinenser einen freiheitlich-souveränen Staat bekommen, ohne die Sicherheitssehnsucht der Israelis zu ignorieren? Ich hoffe darauf, dass jetzt wirklich ein neuer Prozess des Dialoges beginnt.
Im schlimmsten Fall allerdings wird weiterhin die Sprache der Gewalt gesprochen. Dann wird es mehr Blutvergiessen geben, mehr zerstörte Biografien, mehr Misstrauen, mehr Hass.

Das Gespräch wurde am 24. Oktober per Video geführt.

Text: Veronika Jehle