Ein Zerrbild als Vorbild?
Schnell verbreitete sich aber die Mär, Juden hätten mit dem Blut des Jungen ihr Pessachfest feiern wollen, zusätzlich hätten sie ihn an den Füssen aufgehängt, damit er die Hostie ausspucke, die er am Morgen in der Messe empfangen hatte. Aber der Junge blieb standhaft und wurde von den «Ungläubigen» zu Tode gequält.
Im Anschluss an diese - vom damaligen Pfarrer Heinrich Crumbach nach einem Vorbild aus England frei erfundenen Fake-News - rollte eine Welle von Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung durchs malerische Rheintal. Allein in Bacharach wurden 40 Juden ermordet, am ganzen Mittelrhein massakrierte der «christliche» Mob rund 500 Menschen. Der junge Werner wurde fortan als Heiliger verehrt, die dank Wallfahrten reich gewordene Bacharacher Gemeinde errichtete ihm zu Ehren eine Werner-Kapelle hoch über dem Rhein. Heute ist sie eine romantische Ruine, an der eine Tafel mit einem Text von Papst Johannes-Paul II. hängt, auf der er für die Verbrechen von Christen gegen Juden um Vergebung bittet.
Solche antijüdischen Ritualmordstories zirkulierten im Spätmittelalter in verschiedensten Varianten in ganz Europa. Dazu gesellten sich unzählige skurrile Wundergeschichten über fliegende und leuchtende Hostien, zu echtem Fleisch mutierte Hostien usw., die beweisen sollten, dass in der Messe wortwörtlich Brot und Wein zu «echtem» Fleisch und Blut «verwandelt» würden.
Der italienische Teenager Carlo Acutis hat vor seinem leider viel zu frühen Tod dutzende bösartiger wie gutgemeinter Legenden dieser Art in seiner schwärmerisch-frommen Naivität zur Verbreitung des katholischen Glaubens auf seiner Homepage gesammelt (die von Bacharach kommt zwar nicht vor, aber ganz ähnliche von anderen Orten). Dafür wurde er letzten Sonntag zum Heiligen des Internets und zum Vorbild der heutigen Jugend zur Ehre der Altäre erhoben. Auch in der Schweiz berichteten alle relevanten Medien darüber, von BLICK über SRF bis NZZ. Wobei der Fokus der Medien auf dem schrägen Personenkult lag und dem für moderne Geister kaum nachvollziehbaren Wunderglauben der katholischen Kirche. Auf den lesenswerten Hintergrundartikel des Jesuiten Christian Rutishauser hatte meine Kollegin Manuela Moser bereits letzte Woche verwiesen.
1963 hatte in Folge der Aussöhnung der Kirche mit dem Judentum der damalige Bischof von Trier, in dessen Bistum Bacharach liegt, die Wallfahrt zum seligen Werner gestoppt und den Festtag aus dem Heiligenkalender offiziell gestrichen. Ich frage mich erschüttert: Was ist unterdessen passiert, dass die Kirchenleitung 60 Jahre später kind(l)isch naiv mit ihrer Geschichte umgeht? Und wie kann es die Kirche zulassen, dass 2025 das zentrale katholische Sakrament der Eucharistie wieder zu magischem Hokuspokus malträtiert und dieses Zerrbild als Vorbild angepriesen wird?
Wenn ich meinen drei Söhnen den heiligen Carlo Acutis als Vorbild näherbringen wollte, würde ich von ihnen höchstens ein mitleidiges Lächeln ernten. Und ich bin froh darüber!
Auffallend ist übrigens noch, dass der auch am Sonntag heiliggesprochene Pier Giorgio Frassati, der hundert Jahre früher ebenfalls jung starb, in der Berichterstattung in kirchlichen wie säkularen Medien kaum vorkam. Dieser hatte sich, beseelt vom Geist der katholischen Sozialbewegung, für Obdachlose und Ausgegrenzte engagiert. Das ist natürlich weniger sexy als schräge Wunder-Stories und eine mit Silikon und Wachs präparierte Leiche in einem gläsernen Sarkophag.
Gestern jährte sich das für die Kirche einschneidende Datum des Erscheinens der Missbrauch-Pilotstudie zum zweiten Mal. Langsam zeigt sich, dass diese Studie doch viele wertvolle Früchte zeitigt, aller schlimmen Konsequenzen wie der massiven Austritte zum Trotz. Die Präventionskurse für kirchliches Personal sind weiterhin sehr gefragt und meist ausgebucht, das Problembewusstsein ist also deutlich gewachsen. Aber «Prävention ist nie abgeschlossen, sondern muss ständig angepasst werden», betonte gestern Abend im Rahmen einer Veranstaltung des Magazins Forum gemeinsam mit der Paulus Akademie die Präventionsbeauftrage des Bistums Chur, Dolores Waser. Hinderlich seien nach wie vor die Ungleichbehandlung der Frauen in der Kirche, ihre Sexualmoral sowie die kirchlichen Strukturen.
Montag in einer Woche wird die Kantonalkirche gemeinsam mit dem Bischof das neue Angebot einer «Sprechstunde für psychische und sexuelle Gesundheit» vorstellen. Das im kirchlichen Umfeld absolute Pionierprojekt in Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Uniklinik bietet für Mitarbeitende ein garantiert anonymes und kostenloses Therapieangebot im Kontext von Sexualität, Macht und Autorität. Bald erfahren wir mehr.
Was sich auf nationalem Niveau alles getan hat, erklärt RKZ-Generalsekretär Urs Brosi im neuen Podcast «Laut und Leis». Er spricht aber auch darüber, dass es neben Prävention dringend Korrekturen im Machtsystem der katholischen Kirche brauche, die nach wie vor auf sich warten lassen.
Zumindest tut sich was in Bezug auf die Forderung, die Seelsorgende in «irregulären Verhältnissen», also in homosexueller Partnerschaft oder wiederverheiratet Geschiedene, nicht länger wegen ihrer privaten Lebensführung aus dem Dienst entfernt werden dürfen. Das Berner Pfarrblatt berichtet aktuell, dass diesbezüglich ein Entscheid der Bischofskonferenz bevorstehe. Diese trifft sich nächste Woche. Die Zürcher Synode wird dieses Thema ebenfalls an ihrer Novembersitzung beraten.
Sonntag laden die orthodoxen Kirchen Zürichs wieder zur ökumenischen Feier zur Ehren der Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius ein, die ja aus Ägypten stammten, also koptische Christen waren. Wenn die Erinnerung an ihre Geschichte die Menschen über Konfessions- und Kulturgrenzen hinaus heute näher zusammenbringt, dann hat Heiligenverehrung durchaus ihren Sinn. Ich wünsche allen Teilnehmenden ein frohes Glaubensfest und zum Abschluss vor dem Grossmünster einen geselligen Apéro.
«Esskultur bewegt» lautet denn auch das Motto der diesjährigen ökumenischen Impulsveranstaltung zur Nachhaltigkeit, die am 24. September stattfindet. Anmeldungen sind noch möglich. Spannende Referate, ein bunter Marktplatz und anregende Praxisbeispiele aus Kirchgemeinden und Pfarreien erwarten Sie.
Damit schliesse ich den Newsletter ab und widme mich nun den Kornelkirschen im Garten, die zu feinem Gelee verarbeitet werden wollen. Und die Bienen warten auch schon längst darauf, dass sich ihr Imker nach seinen langen Ferien mal wieder bei ihnen blicken lässt. Alles nachhaltig entspannt. Am Abend suche ich mir dann eingedenk der schwierigen Geschichte im Keller eine gute Flasche Rheinwein, ich hab glaub sogar noch eine aus Bacharach. Ich wünsche Ihnen allen ebenfalls ein entspanntes Wochenende.
Ihr
Simon Spengler
Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.
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