Über uns

Über Weihnacht und Weihrauch-Delirium

Bereichsleiter Kommunikation, Sekretär Interreligiöser Runder Tisch im Kanton Zürich
Simon Spengler

Gesamtverantwortung Kommunikation der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Katholischer Theologe und Journalist.

Simon Spengler
19. Dezember 2025

O-Antiphon.jpg

«O Weisheit, komm und offenbare uns den Weg der Weisheit»

So lautet die erste der sogenannten «O-Antiphone», die in der Liturgie der Kirche in den sieben Tagen vor Weihnachten angestimmt werden. Sie stehen für den Schrei aller Generationen nach Befreiung, nach Rettung, nach Gerechtigkeit und Heilung, die die Menschwerdung Gottes verspricht.

O-Antiphon-001.jpg

«O Adonai, komm und befreie uns»

Seit 2000 Jahren teilen wir die Zeitenrechnung in jene vor und jene nach der Geburt des «Erlösers». 2000 Jahre schon feiern wir an Weihnachten diese Zeitenwende. Und es ändert sich – nichts! Gerade dieses Jahr ist das Fest wieder überschattet von Terror, Krieg, Rüstungswahn, von Vertreibung und Bedrohung, Hunger und Gewalt an so vielen Orten der vermeintlich längst «erlösten» Welt.

Die Frage ist tatsächlich berechtigt: Ist Gottes Plan mit der «Erlösung» vielleicht schiefgelaufen? Was hat da bloss nicht funktioniert? Diese Fragen stellen sich viele Menschen, die am Elend der Welt verzweifeln. Und wir «Gläubigen» sollten sie nicht billig vom Tisch wischen und mit süssem Zuckerbäcker-Weihnachtskitsch übertünchen. Oder, wie es leider bis in Kirchenkreise en vogue ist, Weihnachten als Klamauk verhunzen.

O-Antiphon-002.jpg

«O Spross aus Isais Wurzel. Komm und errette uns»

Gott wird Mensch, so der Kern der Weihnachtsbotschaft. Im Menschen begegnen wir Gott. Nicht in metaphysischer Gedankenakrobatik oder psychodelischem Weihrauch-Delirium, sondern im lebenden Menschen. Wenn wir die vorweihnachtlichen O-Antiphone ernst nehmen, müssen wir auch die in der Sehnsucht nach Rettung zum Ausdruck kommende Unerlöstheit der Welt ernst nehmen.

O-Antiphon-003.jpg

«O Schlüssel Davids, öffne den Kerker der Finsternis»

Vielleicht ist aber gerade diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Frieden und Einklang mit der Natur der Samen von Erlösung, die ein Prozess und ein Auftrag ist, kein einmaliger göttlicher Donnerschlag. Und dieser Prozess ist immer gefährdet und muss immer neu entfacht werden. Denn die Sehnsucht wird nie ganz gestillt und immer wieder neu enttäuscht – bis hin zum Kreuz.

 

O-Antiphon-004.jpg

«O Morgenstern, Glanz der Gerechtigkeit, erleuchte, die sitzen in Finsternis»

Die biblische Krippenszene bringt die unerlöste Sehnsucht beispielhaft zum Ausdruck. Während die Engel noch «Gloria in excelsis Deo» singen, rücken die Häscher des Herodes schon an. Wir singen «Ich stehe an deiner Krippe hier, ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen», oder, um es mit Goethe in Faust II auszudrücken, «Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön!»

Und gleichzeitig wissen wir, dass der Augenblick eben nur ein Augenblick ist, der vergeht. In der Bibel folgen Flucht und Migration, in Faust drohen Krieg und die grosse Naturkatastrophe der Sturmflut von 1825. Aber beide grossen Erzählungen geben die Sehnsucht nach Rettung nicht auf, denn beide sind von einer Gewissheit getragen: Gott wird Mensch (Bibel) und die Welt ist nicht ewig verloren, sondern birgt ein Potential für Humanität und Befreiung (Goethe).

 

O-Antiphon-005.jpg

«O König der Völker, errette den Menschen, den du aus Erde gebildet»

In diesem Sinne versuchen wir von der Kommunikationsstelle der Zürcher Kirche immer wieder neu, Orte, Geschehen und Menschen in den Blick zu stellen, an denen die Hoffnung auf Erlösung auch im kirchlichen Alltag neu aufscheint und zumindest für einen Augenblick sichtbar wird. Nur klein und bruchstückhaft, aber immer wieder neu. Wo dies gelingt oder auch nur versucht wird, da ist Kirche lebendig.

Dankbar habe ich in diesem Advent die Krippe der Bahnhofskirche aus den Slums von Manila bestaunt, Figuren aus gerolltem Zeitungspapier, die das bedrohte reale Leben mit dem Weihnachtsgeschehen ungeschönt in Beziehung setzen. Oder die Krippe in der katholischen Kirche St. Susanne in Dedham bei Boston, in der Maria, Josef und das Jesuskind fehlen, weil laut Hinweisschild die Trumpsche Immigrationsbehörde sie abgeschoben hat. Peinlich, dass ausgerechnet der Bischof von Boston verlangt, die harmonische Krippengestaltung müsse «wiederhergestellt» werden.

 

Screenshot-2025-12-11-at-16-45-31-Church-leader-to-decide-next-steps-in-controversial-Dedham-nativity-scene-YouTube-Kopie-e1765468119404.jpg

 

O-Antiphon-006.jpg

«O Immanuel, Hoffnung und Erlöser der Völker, komm und heile uns»

Im Namen des ganzen Teams der Kommunikationsstelle wünsche ich allen Leserinnen und Lesern gesegnete Momente vor der Krippe und uns allen im neuen Jahr viele Erfahrungen von gelingender Erlösung, auch wenn es immer nur Momente sind. Aber die zählen!

Ihr Simon Spengler

 

PS: Dieser Tage bittet das Ressort Soziales der Zürcher Kirche alle Kirchgemeinden zu prüfen, ob Wohnraum für anerkannte Flüchtlinge zur Verfügung gestellt werden kann – «weil in der Herberge kein Platz für sie war». Die Suche nach Wohnraum erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Kantonalen Sozialamt. Hier können alle Hinweise gemeldet werden.

 

trennlinie.png

 

mailchimp teambild_final.jpg

Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.

Sie können den Newsletter hier abonnieren