Kirche aktuell

Nach dem JA zum Burka-Verbot Vertrauen durch Zusammenleben

Regierungsrätin, Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern
Jacqueline Fehr
Jacqueline Fehr
Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr setzt sich nach dem JA zur Burkainitiative erst recht ein für Teilhabe, Kooperation und echten Dialog - gegen Ausgrenzung, Ablehnung und Vorurteile. Hier der Blog-Beitrag der Religionsministerin vom Tag nach der Abstimmung.
10. März 2021

Die Stimmbevölkerung hat die sogenannte «Burka-Initiative» angenommen. Ich war dagegen, das ist bekannt – aber nun irrelevant. Wichtig ist, was wir aus diesem Ergebnis machen. Denn eins ist klar: Die rund 400’000 Musliminnen und Muslime sind längst Teil unserer Schweiz. Und dort wo sie zahlreich sind, wurde die Burka-Initiative verworfen. Denn wer sich kennt, weiss mehr voneinander.

Ausgrenzung als Potential für Radikalisierung

100’000 Musliminnen und Muslime leben im Kanton Zürich. Und der Kanton Zürich hat die Burka-Initiative klar abgelehnt. Mit gutem Grund. Denn die Zürcherinnen und Zürcher wissen: Diese Menschen leben und arbeiten hier. Sie engagieren sich in Vereinen und in der Nachbarschaft. Sie haben als Pflegerinnen in der Corona-Krise Grosses geleistet, sie sind Bankangestellte, Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung oder stehen als Spieler für unsere Nationalmannschaft auf dem Fussballplatz. Und sie zahlen Steuern.

Das Burkaverbot darf kein Vorwand dafür sein, die bereits vorhandenen Ressentiments gegenüber muslimischen Menschen zu verstärken. Gerade im Gefühl der Ablehnung und Ausgrenzung liegt das Potenzial für Radikalisierung – was gewiss nicht im Sinn des Erfinders der Initiative war.

Teilhabe statt Ausgrenzung

Mit den Erfahrungen aus den Kantonen, die gestern Nein gesagt haben, können wir nur einen Schluss ziehen: Statt Ausgrenzung ist Teilhabe gefragt. Statt Vorurteile zu pflegen müssen wir die Zusammenarbeit stärken. Statt dem Rückzug in die eigene Bubble braucht es mehr Begegnungen. Wir müssen verbindliche Beziehungen stärken.

Als Religionsministerin im Kanton Zürich ist es mein Anspruch, ein geregeltes Verhältnis zu allen wichtigen und grossen Religionsgemeinschaften zu pflegen. 2017 hat der Regierungsrat des Kantons Zürich sieben Leitsätze zum Verhältnis von Staat und Religion verabschiedet. Der siebte Leitsatz lautet: «Zum Umgang mit verfassungsrechtlich nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften braucht es klare Handlungsgrundlagen». Genau diese Bemühungen nach klaren Handlungsgrundlagen gilt es nach dem gestrigen Abstimmungssonntag zu verstärken.

Die muslimische ist die grösste der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften. Anders als die als öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften erhalten diese keine direkte finanzielle Unterstützung durch den Staat und haben nicht das Recht, Steuern zu erheben.

Aber auch die muslimische Religionsgemeinschaft erbringt wie die beiden grossen christlichen Kirchen und wie auch die jüdischen Gemeinden Leistungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Diese Leistungen gilt es anzuerkennen und wenn möglich auch zu unterstützen.

Zusammen weitergehen

So haben wir im Kanton Zürich ein höchst erfolgreiches Projekt für eine muslimische Seelsorge in Spitälern, Pflegeheimen und anderen öffentlichen Institutionen aufgebaut – zusammen mit der reformierten und der katholischen Kirche und dem muslimischen Dachverband.

Diesen Weg wollen wir im Kanton Zürich weitergehen – zusammen mit der muslimischen Gemeinschaft. Wir wollen einerseits das organisatorische Defizit des Dachverbands stärken: Ein starker Dachverband ist verlässlicher Partner für den Staat und kann diejenigen Leistungen erbringen, die die Gesellschaft von ihm erwartet. Andererseits nehmen wir uns der Weiterbildung von religiösen Betreuungspersonen an: Damit diese Schlüsselpersonen ihre wichtige Rolle als Vorbilder und kompetente Auskunftspersonen optimal erfüllen können.

Doch es geht nicht nur darum, eine Zusammenarbeit mit institutionellen Akteuren zu fördern.

Es geht mir hier und jetzt auch um die einzelnen Menschen.

In den letzten Jahren als Religionsministerin habe ich viele Zürcher Musliminnen und Muslime kennengelernt, die sich tagtäglich für den interreligiösen Dialog einsetzen und sich trotzdem immer wieder erklären müssen. Obwohl sie so sind wie wir, stossen sie immer wieder an Wände, die sie im Raum des Fremdseins gefangen halten wollen.

Ständige Rechtfertigung zermürbend

So kamen in der Initiativdebatte viele muslimische Frauen mit Kopftuch zu Wort. Sie erzählten, wie gross die Vorbehalte selbst gegenüber einem Kopftuch in der Schweiz sind. Sie fragen sich, weshalb Musliminnen sich dafür rechtfertigen müssen, während das Kleidungsstück seit Jahrhunderten zum ländlichen Alltag gehört. Sie fragen sich, wieso bei ihnen nicht ihr Kopf, sondern das Kopftuch wichtig sei.

Als Nicht-Betroffene müssen wir uns nach diesem Sonntag mehr als zuvor fragen: Wie fühlt man sich, wenn man sich ständig und überall rechtfertigen muss, einer Weltreligion mit 1.8 Milliarden Gläubigen anzugehören, einer Religion mit reicher Geschichte und noch reicherem wissenschaftlichem Erbe? Und wie fühlt man sich, wenn man als durch und durch anständiger Mensch ständig einer kriminellen Minderheit zugeordnet wird? Als ob alle FCZ-Fans den wenigen Hooligans gleichgesetzt würden. Oder die Katholikinnen und Katholiken den Kardinälen mit ihren Missbrauchsverbrechen.

Auch 99% der muslimischen Schweizerinnen und Schweizer finden radikalisierte Islamisten problematisch – nur ist es schwierig, die muslimischen Verbände oder einzelne Musliminnen und Muslime aufzufordern, «endlich Stellung zu beziehen» oder «endlich etwas zu unternehmen», wenn gleichzeitig wenig Bereitschaft in der Gesellschaft besteht, mit diesen Verbänden und Menschen einen echten Dialog zu führen.

Chance für echten Dialog

Die Zeiten, in denen «wir» über «die Muslime» gesprochen haben, müssen deshalb vorbei sein – und zwar endgültig nach dem gestrigen Entscheid. Es ist wie mit allen Bevölkerungsgruppen: Wir müssen nicht über unsere muslimischen Mitmenschen sprechen, sondern mit ihnen. Es braucht einen echten Dialog.

Und den führen wir im Kanton Zürich. Und wir führen ihn weiter, verstärkt und überzeugter denn je. Manchmal ist er zäh und gespickt mit Missverständnissen. Manchmal ist er reich und ermutigend. So wie echte Gespräche mit Menschen halt sind.

Bild: Übergabe an der Zertifikatsverleihungsfeier des Weiterbildungslehrgangs «Muslimische Seelsorge und Beratung im interreligiösen Kontext» (privat)

Der Beitrag wurde zuerst hier publiziert: https://jacqueline-fehr.blog/