Neue Ausgabe Forum-Magazin Erzählung einer Suche
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Es gibt sie nicht, die Christin und den Christen, die Jüdin und den Juden, die Muslimin und den Muslim. Glaube bedeutet stets suchen, finden, verfeinern, verwerfen – und weitersuchen. Glaubenswege sind individuelle Suchbewegungen. Das gilt auch für den Islam, obwohl er oft als unbeweglich gilt. Der Islamwissenschaftler und Philosoph Muhammad Sameer Murtaza erzählt hier seine Geschichte der Suche – die ihn bis zu Hans Küng geführt hat.
Muhammad Sameer Murtaza ist 13, als sein Vater ihm einen Koran überreicht. Der Junge ist überrascht, denn seine pakistanisch-deutschen Eltern sind nicht religiös – aber streng. Und nun hält er diesen Koran, Arabisch-Deutsch, in der Hand. «Man schaut rein und versteht diesen andersartigen Text nicht», sagt er. Gemeinsam mit einem deutschen, nicht-muslimischen Freund, dessen Eltern ebenfalls kontrollierend sind, sucht Muhammad Wege aus der familiären Enge. Sein Freund fühlt die Freiheit, wenn er Ladendiebstähle begeht. «Ich dachte irgendwann: Ich versuch das auch.» Muhammad lässt ebenfalls immer wieder etwas mitgehen. «Einmal, als ich einen Laden verliess – ich kann es nur so sagen –, fuhr ein Koran-Vers wie der Blitz einer himmlischen Aufforderung in mich. Das erschütterte mich so, dass ich wie ferngesteuert in die nächste Moschee lief. Es war eine türkische, der Imam sprach kein Deutsch – ich verstand also kein Wort.» Trotzdem fühlt er sich dort aufgehoben. Murtazas Interesse an Religion ist geweckt.
«Aber wer sagt mir, dass der Islam richtig ist?» Er liest viel über Religionen, besonders die abrahamischen – bleibt aber ratlos. Die Vernunft verlangt einen Beweis, um das Wagnis des Glaubens einzugehen. «In meinem Dorf hatte ein deutscher Mann ein Stück Land direkt am Waldrand gekauft. Er war Buddhist und lebte dort in einer Lehmhütte. Ich bin als Jugendlicher oft zu ihm gegangen.» Irgendwann – Murtaza ist ungefähr 16 Jahre alt – fragt er ihn: «Wie kann ich die richtige Religion finden?» Zur Antwort erhält er: «Die Wahrheit zeigt sich dir, wenn dein Körper darauf reagiert. Wenn du Gänsehaut bekommst und sich die Härchen auf deinem Arm aufrichten, dann hast du die Antwort, die du suchst.» Der Teenager geht nach Hause, schlägt wieder seinen Koran auf – und ist körperlich berührt. «So ist das also«, sagt er sich. Und gleichzeitig: «Vielleicht kann ich ja beides leben. Tagsüber muslimisch und am Abend auf Partys gehen.»
Gedacht, versucht: Es ist Fasnacht, in einer Sporthalle feiert die Jugend des Ortes. «Da war ein betörend schönes Mädchen mit einem knappen Oberteil aus Alufolie. Alle tanzten fordernd um sie. Dieses Balzverhalten, an dem ich früher beteiligt war, wirkte nun leer.» Er beschliesst, ganz auf die Karte Religion zu setzen. «Aber wo lerne ich, als Muslim zu leben?«
Vom unreligiösen Elternhaus ist keine Hilfe zu erwarten, und in den Moscheen vor Ort wird kein Deutsch gesprochen. Mangels Alternativen sucht er sie weiterhin auf. Zufällig begegnet er eines Tages in der Moschee einer Gruppe Menschen, gekleidet in traditioneller pakistanischer Kleidung. Sie sprechen Deutsch, kommen aus Frankfurt und verbringen das Wochenende in dem Gotteshaus. «Wir sind eine Frömmigkeitsbewegung und lernen und lehren den Islam. Willst du das Wochenende mit uns in der Moschee verbringen?» Muhammad schliesst sich ihnen an, lernt islamische Spiritualität, Achtsamkeitsübungen und gute Verhaltensweise kennen.
Mit fast 18 stellt ihn sein Vater vor die Wahl: «Ich gehe zurück nach Pakistan. Kommst du mit?» – «Ich bin hier geboren, spreche kein Urdu. In Pakistan würde mich keine Zukunft erwarten.» So bleibt er zurück. «Das war aber sehr wunderbar, denn ich war ein so guter Schüler, dass ich mir herausnahm, selbst zu entscheiden, wann ich in die Schule gehe und wann nicht. So konnte ich mit der Frömmigkeitsbewegung stets mehrere Tage durch das ganze Land ziehen.» Zwei Jahre lebt er fast besitzlos. «In meiner Einzimmerwohnung schlief ich auf einer Bodenmatratze, ass ohne Besteck, übte mich in Achtsamkeit, um mich von Besitzstreben und Gier zu befreien. Wenn ich heute alles Materielle verlieren würde, wäre dies kein Verlust.» Bis heute schöpft er Kraft aus diesen Übungen. Dann erschüttern die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Welt.
«Sag du mal was dazu«, fordert sein Geschichtslehrer den 19-jährigen Murtaza auf – plötzlich wird er auf sein Muslimsein reduziert. Er erlebt, wie Muslime unter Terrorverdacht geraten und sich «im Namen des Islam» rechtfertigen müssen. Er stellt sich der Herausforderung. Es folgen etliche Schulstunden, in denen Lehrer und Schüler hin und her diskutieren, ob der Islam das neue Böse sei. Doch bleibt das Gefühl der Ausgrenzung. Politische Fragen tauchen auf – in der apolitischen Frömmigkeitsbewegung findet er keine Antworten. Eine neue Suche beginnt. (...)
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