Neue Ausgabe Forum-Magazin Palästina: Gewaltloser Widerstand
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Papst Paul VI. wurde 1964 ein Hügel im Westjordanland geschenkt, auf dem palästinensische Beduinen leben. Die israelische Regierung will dort Siedlungen errichten. Auf dem Stück Land ereignet sich eine dramatische Geschichte.
Text: Magdalena Gräfe
Fotos: Jonas Opperskalski
Kinderfüsse wirbeln Staub auf, während sie in ausgetretenen Plastiksandalen zwischen Wellblechhütten hindurchrennen. Ziegen scharren im kargen Boden nach etwas Essbarem. Wäscheleinen flattern im Wind neben Autowracks. Das Leben auf dem kargen Hügel östlich von Jerusalem wirkt provisorisch, auf Zeit gebaut – und doch ist es seit über 70 Jahren die Heimat einer Beduinengemeinde. Rund 450 Menschen leben hier, die meisten davon Kinder. Doch ihre Heimat ist bedroht.
Weniger als einen Kilometer entfernt lauert das «Krokodil». So nennen sie hier die angrenzende israelische Siedlung Ma«ale Adumim. Weil sie so hungrig ist. Nach immer mehr Land. Wie eine Festung thront sie auf dem Hügel gegenüber dem Beduinendorf. Ihre identischen hellen Häuser mit den roten Ziegeldächern, die an eine amerikanische Vorstadt erinnern, stehen in krassem Gegensatz zu den Wellblechhütten. Ma»ale Adumim, gegründet 1975 als kleines Dorf, ist heute eine der grössten Siedlungen im besetzten Westjordanland. Nach internationalem Recht dürfte sie hier gar nicht sein, ihre blosse Existenz ist illegal. Doch mittlerweile ist die Stadt mit weniger als 40 000 Einwohnern flächenmässig so gross wie Tel Aviv – eine Metropole mit der zehnfachen Einwohnerzahl. Israelische Siedler und palästinensische Beduinen. Zwei Gemeinden, die unterschiedlicher nicht sein könnten – getrennt durch Stacheldraht und Mauern –, und doch beanspruchen beide dasselbe Land: jenes, auf dem die Beduinen seit Jahrzehnten leben. Denn Ma«ale Adumim soll weiterwachsen, auf Kosten der umliegenden Beduinendörfer.
Einst lebten die Beduinen des Jahalin-Stammes in der Negev-Wüste, im heutigen Israel. Doch im Zuge der Staatsgründung Israels 1948 wurden sie wie rund 750 000 weitere Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Im hügeligen Umland von Jerusalem fanden sie ein neues Zuhause. «Das beduinische Leben gehört untrennbar zur palästinensischen Geschichte», sagt Atallah Mazara»a, der Vertreter der Gemeinschaft. Er ist stolz auf ihre traditionelle Lebensweise. Auch wenn von ihr immer weniger übrig bleibt.
Die weiten Landflächen, die sie für ihre Tiere zum Weiden brauchen, wurden mit der Zeit immer kleiner; mussten den Siedlungen, militärischem Sperrgelände und dem Bau der Mauer weichen. Nun droht den Beduinen zum zweiten Mal die Vertreibung. Mitte August kamen Räumungsbescheide. 20 Gebäuden droht nun der Abriss. «Die israelische Armee könnte jeden Moment angreifen und unsere Häuser zerstören», sagt Atallah Mazara«a. «Wir haben permanent Angst.»
Die Bulldozer könnten diesmal mehr als nur die Gebäude der Beduinen abreissen: Unter den Trümmern der Wellblechhütten könnte auch der Traum eines palästinensischen Staates begraben werden. Denn der Hügel, auf dem die Beduinen leben, ist nicht einfach nur ein Hügel. Er ist Teil eines umkämpften Territoriums. Er liegt inmitten eines schmalen, rund zwölf Quadratkilometer grossen Korridors, den Israel seit den 1990er-Jahren beansprucht. E1, kurz für «East 1», gilt als das umstrittenste Siedlungsprojekt Israels, da es die Zwei-Staaten-Lösung so sichtbar bedroht wie kein anderes.
Das E1-Gebiet grenzt direkt an das mehrheitlich palästinensische Ostjerusalem und bildet ein Bindeglied zwischen dem südlichen und dem nördlichen Teil des Westjordanlandes. Würde E1 an Ma»ale Adumim angegliedert, entstünde ein durchgehender Korridor bis Jerusalem. Er würde das Westjordanland faktisch in zwei Teile zerschneiden – und Ostjerusalem, die geplante Hauptstadt eines palästinensischen Staates, vom Rest des Gebiets abtrennen. Damit würde ein zusammenhängendes Territorium für einen künftigen palästinensischen Staat erschwert – wenn nicht gar unmöglich.
Alon Cohen-Lifshitz sieht E1 deshalb als das gefährlichste Siedlungsprojekt Israels. Er arbeitet für «Bimkom», eine von israelischen Planern und Architekten gegründete NGO, die sich für gerechte Bau- und Nutzungsrechte in den von Israel kontrollierten Gebieten einsetzt. «Es geht nicht um ein Dorf oder eine Region, sondern um die territoriale Kontinuität als Ganzes», sagt der Architekt. «E1 ist ein riesiges Gebiet mit Auswirkungen auf das gesamte Westjordanland.»
Das Westjordanland ist zusammen mit Ostjerusalem und Gaza seit dem Sechstagekrieg 1967 unter israelischer Besatzung. Noch im selben Jahr begann Israel mit dem Bau von jüdischen Siedlungen in diesen Gebieten – ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht. Die Genfer Konvention verbietet die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung in besetzten Territorien. Alle dortigen israelischen Siedlungen sind daher illegal. Trotzdem leben mittlerweile über 700 000 israelische Siedler im Westjordanland, strategisch verstreut über das gesamte Palästinenser-Gebiet.
«Wo es Konflikte um Land gibt, ist Raumplanung ein sehr mächtiges Instrument», sagt Alon Cohen-Lifshitz. «Die Siedlungen werden zu Werkzeugen, um ein Geflecht der Kontrolle zu errichten.» Für die rund drei Millionen Palästinenser im Westjordanland bedeutet diese Kontrolle ein Leben im permanenten Ausnahmezustand und unter israelischem Militärrecht: Razzien, Checkpoints, willkürliche Inhaftierung, Siedlergewalt, Hauszerstörungen, Vertreibungen und Mauern bestimmen ihren Alltag.
Atallah Mazara«a kennt diese Lebensrealität nur zu gut. Der Beduine ist ein kleiner, zierlicher Mann. Aber er ist zäh. Seit Jahrzehnten kämpft er für seine Rechte als Beduine und als Palästinenser. «Wie jeder Palästinenser empfinde ich es als selbstverständlich, Widerstand zu leisten», erzählt er bei einem Besuch im Mai. «Es ist etwas Natürliches, sich gegen eine Besatzung zu wehren.» Jahrelang war er für seinen friedlichen Aktivismus im Gefängnis. Mehrmals wurde er bei Demonstrationen von israelischen Soldaten angeschossen. «Einmal traf mich eine Kugel in die Brust», erzählt er und zeigt seine Narben. «Ich dachte, das wäre mein Ende.» Doch er hat Glück, kommt rechtzeitig ins Krankenhaus und überlebt. Seit Jahren eskaliert die Gewalt im Westjordanland immer mehr. Laut UN wurden seit dem 7. Oktober 2023 fast 1000 Palästinenser getötet. Die meisten durch israelische Soldaten, aber immer mehr auch durch Siedler.
Atallahs ältester Sohn Basil erinnert sich noch gut, als die bewaffneten Siedler kamen. Seit dem Gazakrieg kommen sie regelmässiger, sind aggressiver geworden. Der 22-Jährige zeigt auf eine Wellblechhütte am äussersten Ende der Gemeinde. Auf der anderen Strassenseite thront Ma»ale Adumim. Zwei Überwachungskameras sind provisorisch an einem Metallmasten angebracht. Sicherheitsvorkehrungen vor Angriffen. Doch mehr als Filmen können die Beduinen nicht. «Wir können nichts tun, wenn sie kommen», hält Basil fest. «Wir werfen nicht mal Steine.» Zu gross ist die Angst vor einer Eskalation. Immer wieder erschiessen israelische Siedler unbewaffnete Palästinenser. «Ich habe immer Angst, getötet zu werden», sagt er.
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