Was oder wem kann man noch glauben?
1‘000 Menschen – unter anderem auch Elon Musk und weitere Technik-Expertinnen und -Experten – fordern in einem offenen Brief einen Entwicklungs-Stopp für KI-Modelle, die leistungsfähiger sind als das umstrittene Sprachmodell GPT-4 der Firma OpenAI. Auch der deutsche Ethikrat warnt vor der KI. Textgeneratoren wie ChatGPT können immer mehr Fragen beantworten und sogar programmieren. KI-Bilder sehen täuschend echt aus. Persönlichkeiten wie der Papst oder Politiker werden so in Situationen dargestellt, die nie passiert sind. Zuerst brauche es eine «unabhängige» Überprüfung, bevor mit dem Training neuer Systeme begonnen werde. «Wir stimmen zu», schreiben die Verfasser des Briefes. «Der Zeitpunkt ist jetzt.» Scheint vernünftig.
Die Welt wird komplizierter, was viele Menschen dazu bringt, an Altem, Altbewährtem festzuhalten. Die Auseinandersetzung mit den Fragen zu Ethik und was wir als Gesellschaft in Zukunft wollen, lässt sich aber nicht aufschieben, ist wichtig und nötig.
Fragen nach Ethik und Doppelmoral muss sich auch unser Bischof Joseph Bonnemain in diesen Tagen stellen. Dies wegen Toni. Toni Ebnöther, Priester im Dienst des Bistums Chur, wirkte in den 1950er-Jahren an verschiedenen Stationen in der ganzen Schweiz. Und zeugte mindestens sechs Kinder, die es nach der Lehre dieser Kirche gar nicht geben dürfte. Der Regisseur Miklós Gimes hat sich mit der Geschichte der Kinder, die sich an der Beerdigung ihres Vaters erst überhaupt kennenlernten, auseinandergesetzt.
Der Film «Unser Vater» startet nächste Woche in den Schweizer Kinos. Vielerorts finden dazu auch Podien und Diskussionsrunden statt, auch mit Bischof Bonnemain. Dieser war gestern im Talk täglich von Tele Züri und hat Stellung genommen.
«Die Opfer haben mich verändert», sagt Bonnemain in der Sendung. Er rief auch nochmals dazu auf, dass sich wirklich alle Opfer melden sollten. Seine Betroffenheit nehme ich ihm ab. Früher habe er zuerst die Institution Kirche in Schutz nehmen wollen. Seit er Bischof ist, habe er sämtliche Akten zugänglich gemacht. Es sei aber wohl in früheren Jahren auch vieles nur mündlich besprochen worden. Im September wird eine Vorstudie zu Missbrauch in der Schweizer Kirche der Uni Zürich veröffentlicht. Warum das alles so lang ging? Die Schweizer Bischofskonferenz wollte, dass alle mitmachen, auch die Ordensgemeinschaften, begründete Bonnemain die späte Aufarbeitung.
Zum Zölibat befragt, wich Bonnemain mehrheitlich aus, aber keinen Millimeter von der vatikanischen Haltung ab. Dies, obwohl hinlänglich bekannt ist, dass es auch aktuell in der Schweiz und anderswo Priester gibt, die eheähnliche hetero- oder homosexuelle Beziehungen pflegen. Zölibat hin oder her. Was nicht sein darf, wird einfach ignoriert. Gerade mit dieser Doppelmoral setzen sich auch der Synodale Weg und der Synodale Prozess auseinander. Mutig wäre es hier, endlich, endlich, Zeichen zu setzen. Da warten viele noch. Sowohl auf Papst Franziskus wie auch auf unserem Bischof. Generell ist zu wünschen, dass an Schlüsselpositionen nicht bloss Würdenträger, sondern Menschen mit echten Führungsqualitäten sind, die bereit sind, Entscheidungen eigenständig und für die Menschen und das Leben zu fällen - und nicht dagegen.

Daran hat es wohl bei der Credit Suisse gefehlt. Was hat der Fall eines Wirtschaftsunternehmens in einem Newsletter der Kirche zu suchen, werden Sie sich vielleicht fragen. Für mich sehr viel. Denn auch dort mangelt es offenbar an kompetenten Führungskräften, die zum Wohle der Gemeinschaft entscheiden; dafür kennen wir jetzt zu viele, die sich für das schnelle und viele Geld entschieden haben. Andersherum geht es in der Kirche wohl um viel Macht.
Tatsache ist, dass Tausende Arbeitsplätze und damit nochmals mehrere Tausend Menschen direkt vom Untergang der Bank betroffen sind. Es ärgert mich masslos, dass für die Credit Suisse innert weniger Tage Milliarden von Franken aus dem Hut gezaubert werden. Eine Woche später präsentiert dann der Bund bereits Sparpläne für die AHV, bei der es wohlgemerkt zwar auch um einen hohen Betrag geht, aber um einen wesentlich geringeren.
Tatsache ist auch, dass, wenn der politische Wille da wäre, die Sozialwerke von AHV über IV und Sozialhilfe schon längst saniert sein könnten. Das Geld wäre nämlich vorhanden. Dann müssten sich IV-Antragsteller und Sozialhilfebedürftige nicht einem erniedrigenden Prozedere unterziehen und über jeden einzelnen Franken Rechenschaft ablegen, sich mit Vertrauensärzten herumschlagen, die sich kaum Zeit nehmen, richtig zuzuhören, geschweige denn, gleich beim ersten Antrag zustimmen. Dann wäre es auch nicht so, dass Jugendliche immer noch aktuell über ein halbes Jahr auf einen dringend benötigten Termin bei einem Psychologen warten müssten. So viele Probleme würden sich lösen lassen: nicht mit künstlicher Intelligenz, sondern mit dem Willen, das Problem zu lösen, mit menschlicher Intelligenz und Liebe.


Lesenswert auch Raphael Rauchs letztes Rauchzeichen. Scharfsinnig analysiert er die aktuellen Aufgabestellungen der Kirche sehr genau. Pflichtlektüre, würde ich sagen, für alle in der katholischen Kirche mit dem Auftrag verbunden, sich wirklich ernsthaft darüber Gedanken zu machen; Veränderungen tun im ersten Moment weh und können Angst machen. Aber es wäre für uns alle zum Segen und zum – ehrlichen – Weiterbestand der katholischen Kirche. Danke, lieber Raphael, dass du kath.ch so lesenswert gemacht hast.

Hier ein ganz persönliches Statement. Ich erlebte vor ein paar Jahren einen Tiefpunkt, an dem ich mich an die Caritas wendete. Ich bekam einen Rückruf von der zuständigen Sachbearbeiterin. Sie reagierte auf ein E-Mail von mir. Direkt weiterhelfen konnte sie mir zwar nicht direkt. Aber sie hörte zu, zeigte Verständnis, sie machte mir Mut, verwies mich an eine andere Stelle, die mir weiterhelfen konnte. Es waren zwei, drei Sätze, die mir wieder auf die Beine halfen, als ich am Boden war. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich bin heute noch dieser unbekannten Frau dankbar. Es braucht nicht viel. Aber es braucht Menschen, die es tun.

Gefreut habe ich mich an einem Film über Mario Botta, in der Sternstunde von SRF zum seinem 80. Geburtstag. Ich bin nämlich nicht nur ein Fan von Karin Iten, sondern auch von Mario Botta. Seine Kirchen im Tessin sind wunderbar, «Architektur der Stille», wie es im Film genannt wird. Der Bau auf dem Monte Tamaro bringt einem den Himmel näher. Der Bericht, seine moderne Interpretation von sakralen Bauten, inspirieren mich. Prädikat: sehenswert.


Passend zum Thema noch der Veranstaltungshinweis auf nächsten Mittwoch, 5. April: In der Paulus Akademie in Zürich gibt es von 12.30 bis 13.30 Uhr Lunch & Lecture - Brainfood zum Zmittag zum Thema «Künstliche Intelligenz für alle? ChatGPT, Dall-E &Co.».
Eine gesegnete Karwoche wünscht Ihnen herzlich
Sibylle Ratz

Der Inhalt dieses Newsletters gibt die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin wieder. Diese muss nicht in jedem Fall der Meinung der Katholischen Kirche im Kanton Zürich entsprechen.
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