Kirche aktuell

Impuls zum Bistumsjahr Wagt mehr als Gottesdienste!

Stephan Schmid-Keiser

Der in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie promovierte Theologe und Seelsorger Stephan Schmid-Keiser (*1949) kam seit 1975 in überregionalen Tätigkeiten und fünf Schweizer Pfarreien mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt, denen die Suche nach religiöser Identität in säkularer Gesellschaft wichtig bleibt. Nachberuflich folgte 2016/17 die Aufgabe als Ko-Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. Seit Januar 2018 ist er publizistisch tätig und veröffentlichte jüngst die Studie Religiöse Kommunikation im Christentum und Buddhismus –  vor dem Hintergrund von Paul Tillichs Lebensphilosophie. Lit-Verlag Münster 2024.

Stephan Schmid-Keiser
«Hören – Handeln – Hoffen» lautet das Motto des Churer Bistumsjahres. Wird der Aufruf gehört? Wo werden Menschen gemeinsam ins Handeln kommen? Werden sie sich in ihrem Hoffen mit anderen verbünden? Ein Impuls des Theologen Stephan Schmid-Keiser zum Churer Bistumsjahr.
26. Juni 2025

Jetzt, da der Traditionsbruch bei der Weitergabe des Glaubens weit fortgeschritten ist, wird eine qualifizierte Gemeinschaftsbildung (griech. Koinonia) zum entscheidenden Faktor. Übersieht man sie, verengt sich der Blick auf den klerikalen Innenbereich. Fehlt es an Förderung der Gemeinschaft unter den Menschen, entfalten sich die klassischen kirchlichen Lebensvollzüge höchstens minimal. Das Zeugnis (Martyria) wird schwächer, dem Dienst am Nächsten (Diakonia) fehlt die Kraft, gottesdienstliche Versammlungen (Liturgia) verfallen in gewohnte Muster. Dass es an der Koinonia liegt, betonte vor 40 Jahren der Pastoraltheologe Reinhold Bärenz[1] und plädierte für eine neue Pastoral in neuen Situationen. Gemeinschaft entstehe aus Beziehungen. Sie erst öffnen Räume, in denen sich kirchliches Leben dreidimensional entwickelt: als Diakonia, durch Gemeinschaft mit Christus in der Gestalt von Menschen, die in irgendeiner Form im Leben zu kurz gekommen sind; als Liturgia, durch Gemeinschaft mit Christus in der Gestalt der Feier der Sakramente, besonders der Eucharistie; als Martyria, durch Gemeinschaft mit allen, die durch ihr Wort und ihr Leben von Christus Zeugnis geben.

Beziehungsfähigkeit

Diesen drei Dimensionen vorgeordnet ist die alles entscheidende Koinonia, zu welcher die Menschen erst befähigt sein müssen. Selbstverständlich ist dies nicht. So gilt es diese pastoralpraktische Lücke in Zeiten der Individualisierung stärker in den Blick zu nehmen. Zwar erfahren nicht wenige etwas Gemeinschaft beim liturgischen Feiern, sehen sich dann aber konfrontiert mit den bekannten Einbahnstrassen einseitiger Kommunikation. Wo dann noch Konflikte untereinander schwelen, wird es unmöglich, die Schäden an der Gemeinschaft allein durch feierliche Gottesdienste zu sanieren. Wie weiter, wenn kirchliche Feste sich in konfessionelle Enklaven zurückziehen? Was tun angesichts dieser Situation der Kirchen (Plural!) in einer Gesellschaft von Einzelinseln? Sinnbild dafür wurden mir jüngst zerstreute Gruppen am Rand der Tour de Suisse, wo kurz so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl in der Luft lag. Und die Solisten auf dem Rad blieben für kurze Zeit die Helden des Tages in einem Meer von Individualisten. Wo tragen die Kirchen bei, dass Menschen beziehungsfähig werden?

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Meditativer Tanz im Kerzenlicht in Zürich-St.Gallus in der Langen Nacht der Kirchen. Foto: zvg

Raus aus alten Fahrwassern

Die auf dem synodalen Weg gewählte Methode des «Gesprächs im Geist» kann beitragen, dass die Beteiligten aus alten Fahrwassern finden. Brisant wird das Vorgehen, wenn unterschiedlichste Sichtweisen aufeinandertreffen. Noch liegen keine Resultate wie die erhoffte Anpassung der Zulassungsbedingungen zu den kirchlichen Ämtern oder zur Einbettung der christlichen Botschaft in die Lebenswelt der Menschen vor. Der Prozess ist von Auseinandersetzungen geprägt, die sich am Bild einer monarchisch-aristokratisch gefärbten männlichen Organisation entzünden. Die bisher erfolgten Schritte hinterlassen bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Die Sichtweisen in den einzelnen Ortskirchen blockieren ein globales Zusammenrücken, wenn nicht doch noch die Einsicht in die klärende Kraft vertiefter Gespräche wächst und Lösungen für die jeweilige Praxis umgesetzt werden. Abgesehen von der dazu nötigen Dezentralisierung wird darum die Fähigkeit, als Kirche in der Welt gemeinschaftsbildend zu wirken, zur Schlüsselfrage für die um Glaubwürdigkeit ringende Kirche. Das gilt auch für das Churer Bistumsjahr, welches sich als Etappe auf dem grösseren synodalen Weg versteht.

Entscheidende Sozialkompetenz

Im gesellschaftlichen Gegenwind der Gegenwart ist die Sozialkompetenz der Kirchen gefragt. Obwohl die Menschen vielerorts bei Freizeitaktivitäten oder dem familialen Sonntags-Brunch mehr zusammenfinden als im Rahmen von Gottesdiensten und Apéros, erwacht an den Übergängen des Lebens oder bei Katastrophen die Erinnerung, dass Rituale oder Gottesdienste einen gemeinsam Echoraum sowohl für hoffnungsgesättigte Momente wie für erlittenes Leid bilden können. Werden dadurch Menschen zu stärkerem Engagement für die Gemeinschaft am Ort motiviert? Zumindest zählt hier das Zeugnis der Kirchen. Nicht wenige erzählen, dass sie im Rahmen der Kirchen während ihrer Jugend oder als junge Erwachsene Gemeinschaft erfuhren, davon nun aber aus zahlreichen Gründen Abstand nehmen. Stärken kirchliche Lebensvollzüge Sozialkompetenz, fördern sie die Fähigkeit, in einer zerstrittenen Welt eine gemeinsame Geschichte zu leben.

Gemeinsame Geschichte aller

Die Entfaltung gemeinschaftsbildender Räume ist kein konfliktfreier Selbstläufer, wie Erzählungen aus Schrift und Geschichte zeigen, etwa entlang von Apostelgeschichte 13,13-25 oder dem öffnenden Blick des in den 1960ern politisch engagierten Trappistenmönchs und Mystikers Thomas Merton (1915-1968)[2]. In der frühesten Verkündigung des Evangeliums erwarten die Vorsteher der Synagoge von Paulus und seinen Begleitern ein «Wort des Trostes für das Volk». Paulus spannt einen weiten Bogen von der Erwählung des Volkes Israel zur Heils- und Unheilsgeschichte bis zu Johannes dem Täufer, der auf Jesus hinweist als einem, dem er die Sandalen von den Füssen zu lösen nicht wert sei. Typisch für Paulus ist die Haltung, dass alle Menschen eine gemeinsame Geschichte leben. Wenn derart die Gleichheit unter Ungleichen hergestellt wird, erinnert dies an das humane Ideal, dem sich der Konvertit Thomas Merton verschrieb, indem er das vom mystischen Schriftsteller John Donne 1624 verfasste Gedicht zum Motto seiner eigenen Schrift machte: «No Man is an Island».

Kein Mensch ist eine Insel, / ganz für sich allein; / jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, / ein Teil des Ganzen. // Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, / wird Europa weniger, / genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, / oder das Haus deines Freundes oder dein eigenes. // Jedermanns Tod macht mich geringer, / denn ich bin verstrickt in das Schicksal aller; // und darum verlange nie zu wissen, / wem die Stunde schlägt; / sie schlägt für dich.[3]

In Mertons Buch[4] finden sich Kernsätze, die zur Gemeinschaftsbildung motivieren. Zentral dabei die Hoffnung jedes Menschen auf sein eigenes Heil und das Heil seiner Nächsten. Es ist dies die durch alle Generationen der Menschheit gemeinsame Hoffnung, an die zunächst im eigenen Kreis und Umfeld geknüpft wird. Wenn es auf diesem Weg gilt, Christus zu finden, könne dies keine Flucht vor uns selbst sein: «Ich kann Gott nur in mir und mich in Ihm finden, wenn ich den Mut habe, mich genauso zu sehen, wie ich bin, mit allen meinen Grenzen, und andere so zu bejahen, wie sie sind, mit all ihren Grenzen. Die Antwort des Glaubens ist nicht gläubig, wenn sie nicht vollkommen wirklich ist.»

Luis Varandas mit Bischof Joseph Maria Bonnemain beim Gottesdienst.
Luis Varandas mit Bischof Joseph Maria Bonnemain beim Gottesdienst. Foto: Manuela Moser

Jede und jeder ist Teil des Ganzen. An nicht wenigen Baustellen brauchen heute die christlichen Kirchen einander. Auch im Bistum Chur sollten sie, wo immer möglich, zusammenrücken – nicht nur die verschiedenen Regionen innerhalb des Bistums. Meine eigenen Erwartungen kleide ich in Fragen: Warum nicht künftig bei der Ausbildung von Religionsfachpersonen ökumenisch zusammenspannen? Warum nicht in der Deutschschweiz den Schritt zu einem gemeinsamen ökumenischen Institut wagen, nachdem das kleine Institut in Luzern dem Spardruck zum Opfer fällt? Warum nicht in der ganzen Schweiz der spezifisch interreligiös sensibilisierten Seelsorge an Spitälern, Gefängnissen, Betagten- oder Asylzentren finanziell verstärkt unter die Arme greifen? Wenn sie mit anderen mehr gemeinsam realisieren, werden die christlichen Kirchen auch mehr wahrgenommen. Die Steuerzahlenden werden sie weniger beargwöhnen und die Christinnen und Christen werden hoffentlich mehr an Gemeinschaft und lebensdienlichem Zeugnis wagen.

Gottesdienste und Feste im Bistumsjahr können einen Auftakt bilden. Danach aber muss etwas in Bewegung kommen, hoffende Gemeinschaft gelebt und dienende Kirche sichtbar werden. Denn darauf kommt es an.

[1] Reinhold Bärenz (2000) Die Wahrheit der Fische. Neue Situationen brauchen eine neue Pastoral, Herder/Freiburg i. Br., 85

[2] Umfassende Informationen finden sich unter https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Merton

[3] Freie Übertragung. Vgl. auch https://de.wikipedia.org/wiki/John_Donne#Zitat

[4] Ausschnitte aus der Einleitung zu Merton, Thomas (2005) Keiner ist eine Insel; Betrachtungen über die Liebe, Einsiedeln