Kirche aktuell

Neue Ansätze in der Seelsorge Kirche leben unter anderen Bedingungen

Leiter Ressort Pastoral
Rudolf Vögele

früherer Leiter Pastoral im Generalvikariat

Rudolf Vögele
Es geht auch anders, aber es braucht Mut! Der Generalvikar des Bistums Bozen-Brixen zeigte neue Wege, wie Pfarreien mit immer weniger hauptamtlichem Personal lebendig bleiben. Rudolf Vögele leitet das Ressort Pastoral im Generalvikariat Zürich-Glarus, ist Mitglied im neu ernannten diözesanen Pastoralentwicklungsteam und schreibt über seine Erkenntnisse einer Reise ins Vintschgau.
13. Juli 2022

Manchmal gelingt es, das praktische mit dem Nützlichen zu verbinden, so geschehen bei der diesjährigen Fortbildung des Dekanats Albis, zu dem ich gehöre. Die Reise über das Münstertal ins Südtirol war gesäumt von kulturellen und historischen Zwischenhalten, lud aber auch zum Nachdenken über pastorale Herausforderungen ein. Ich war sehr gespannt, was Generalvikar Eugen Runggaldier von der Diözese Bozen-Brixen und der Erzpfarrer von Muri-Gries von ihrer Situation in der Seelsorge erzählen würden. Was im Südtirol bereits Tatsache ist, dass nämlich wegen Personalmangels viele Pfarreien nicht mehr besetzt werden können, zeichnet sich bei uns in der Schweiz erst als kommende Herausforderung ab. Wie also gehen die Verantwortlichen im Südtirol mit Seelsorgeeinheiten, Pastoralräumen oder dem Synodalen Weg um? Neugierig und gespannt bekam ich in dieser Fortbildung Einblick in die Nachbardiözese – und kehrte tief beeindruckt nach Hause zurück.

Simples Rezept: Tun statt fragen!

Seit nunmehr 35 Jahren bin ich im pastoralen Dienst tätig, fast 30 Jahre davon in der Pastoralentwicklung auf Bistums- oder kantonaler Ebene. In dieser Zeit habe ich von vielen Aufbrüchen gehört und gelesen, einige auch selbst initiiert. Die jeweils nachfolgenden Bischöfe oder gar die Zentrale in Rom haben etliche davon wieder zerschlagen. Mit Blick ins Bistum Bozen-Brixen bekomme ich den Eindruck: Es geht doch, wenn man will! Das Rezept dafür ist eigentlich simpel, braucht aber etwas Mut:

Nicht zuerst im Kirchenrecht nachschauen oder Rom um Erlaubnis fragen, sondern einfach mal machen, es geht nämlich auch ganz anders. Und dann mit einer Portion Gottvertrauen hoffen, dass es Bestand hat!

Die Bistumsverantwortlichen von Bozen-Brixen sind ganz entspannt unterwegs, weil sie gar keine andere Wahl haben.

Bozen-Brixen: Keine Kirchensteuern, keine genauen Mitgliederzahlen

Die Ausgangslage des jungen Bistum Bozen-Brixen könnte im Vergleich zu unseren Schweizer Verhältnissen nicht unterschiedlicher sein: es kennt weder Kirchensteuern noch genaue Mitgliederzahlen. Das Jahresbudget des Bistums umfasst (ohne Personalkosten) um die 200`000 Euro. Die Priester werden von einer nationalen Kasse besoldet und verdienen ungefähr 1`500 Euro im Monat. Andere hauptamtliche Laien gibt es nur sehr begrenzt. Schon allein diese Zahlen machten mich nachdenklich, denn meine viertägige und von Kirchensteuern finanzierte Fortbildung kostete einen halben Monatslohn eines Südtiroler Pfarrers.

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Generalvikar Eugen Runggaldier

Trotz dieser Rahmenbedingungen strahlte Generalvikar Eugen Runggaldier beim Erzählen aus seinem Bistum eine Zufriedenheit und Gelassenheit aus, die uns als Hauptamtliche aus den Dekanaten Albis und Oberland faszinierte. Probleme mit freiwillig Engagierten? Kennt er nicht!

Glasklar ist: ohne freiwillig Engagierte geht gar nichts.

Mit neuen Wegen kreativ in die Zukunft

Bereits vor einigen Jahren haben die Verantwortlichen der Bistumsleitung «synodal» gedacht und gehandelt. Von 2013-2015 fand in Boxen-Brixen eine Diözesansynode statt mit der klaren Voraussetzung: es muss gehandelt werden, ein «Weiter-wie-bisher» ist unmöglich. Die Zahl der Priester nimmt signifikant ab, ihr Durchschnittsalter ist heute höher als 75 Jahre. Von knapp 250 Diözesanpriestern sind heute noch ungefähr 150 im aktiven Dienst – und das bei 280 Pfarreien. Ein wichtiges Anliegen der Synode war, dass Pfarreien nach Möglichkeit erhalten bleiben und nicht fusioniert werden sollen. Die Voraussetzung dafür lautete jedoch: die Pfarreien müssen selbst Verantwortung übernehmen.

Übernehmt selber Verantwortung!

Also gab die Bistumsleitung den Appell heraus:

  • Schaut zu, wie ihr die Pfarrei am Leben erhaltet, übernehmt selber Verantwortung!
  • Bildet Pastoralteams mit verschiedenen Aufgabengebieten wie Diakonie, Liturgie, Katechese, Jugend- und Familienarbeit.
  • Beauftragungen für Gemeindeleitung erhalten vom Bischof nur Teams oder der Seelsorgerat, es gibt kein Einzelkämpfertum.
  • Wo dies hilfreich ist, können auch Seelsorgeeinheiten gebildet werden für die Kooperation und gegenseitige Ergänzung.

Mich beindruckte, dass die Bistumsverantwortlichen nicht bloss appellierten, sondern gleichzeitig auch echte Verantwortung abgaben, ohne genau zu wissen, wie das vor Ort genau herauskommen würde.

Der Blick in die heutige Situation zeigt: Es klappt weitestgehend! Der Pfarreirat der Dompfarrei in Bozen zählt beispielsweise 15 Mitglieder. Jedes Mitglied ist für ein Ressort verantwortlich und arbeitet darin wieder mit anderen Freiwilligen zusammen. Genaue Zahlen kennt Generalvikar Runggaldier selber nicht, er schätzt aber, dass sich um die 300 Freiwillige engagieren.

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Dom Mariä Himmelfahrt in Brixen. Foto: Oliver Abels, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Grösste Ressource: ehrenamtlich Engagierte

Beim Besuch der Benediktinerpfarrei St. Augustin bestätigte Pater Ulrich Kössler:

«Die grösste Ressource sind die Ehrenamtlichen und diese gilt es behutsam zu pflegen.»

Für ihn heisst leiten ermutigen, fördern und ermächtigen, bedeutet Leitung Freiräume zu gewähren, auch andere Liturgieformen zuzulassen, Räume für Gruppierungen zu öffnen, auch wenn sie «nicht ganz so fromm» sind.

Das Spenden von Sakramenten wie Taufe, Firmung und Hochzeit oder eine Beerdigung mit Gottesdienst ist nach wie vor kostenlos. Im Gegenzug fliessen reichlich Spenden – vor allem dort, wo die Menschen spüren, dass die Seelsorge ihnen zugewandt ist, ihre persönliche Freude und Hoffnung, Trauer und Angst ernst nimmt und darauf eingeht. Interessantes Detail: In ländlichen Gegenden bekommen manche Pfarrer zu ihrem bescheidenen Gehalt von den Gläubigen statt Geld «Naturalienspenden». «Verhungert ist noch keiner», versicherte der Generalvikar schmunzelnd.

Nur Mut!

Zurückgekehrt nach Zürich hallen die Schilderungen aus Bozen-Brixen in mir nach. Der Personalmangel holt uns in wenigen Jahren auf allen Ebenen unerbittlich ein und es werden sich drängende Fragen stellen nach dem «Wie weiter?» in Pfarreien und in der Seelsorge. Vielleicht laden wir dann ein brixener Freiwilligen-Team für ein paar Tage für einen Erfahrungsaustausch zu uns ein, selbstverständlich als unsere Gäste und ohne dass sie einen Euro in die Hand nehmen müssen.

Papst Franziskus hat einen Synodalen Prozess angestossen, der nicht mehr aufzuhalten ist. Bischof Joseph Maria Bonnemain will diese Dynamik für unsere Diözese Chur nutzen. Da kann er die Erfahrung seines Bischofskollegen, dessen Verantwortlichen in Bistumsleitung sowie der Teams von Ehrenamtlichen nützen. Ich wünsche ihm den Mut dazu. Und eine extra-grosse Portion Gottvertrauen.