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Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Da sein, wenn es ernst wird

Damit auch in der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen ein Priester für seelsorgerliche Notfälle zur Verfügung steht, gibt es seit 2011 im Kanton Zürich einen Priester-Pikettdienst. Unterwegs mit Pfarrer Hagen Gebauer.
17. Oktober 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Hagen Gebauer holt noch schnell seine Tasche mit der geweihten Hostie. Öl zum Salben und ein kleines Weihwasserfläschchen für die Krankensalbung stecken in seinem weissen Kittel. «Ah, jetzt kommt der Herr Doktor», hört er oft, wenn er das Spitalzimmer betritt. «Nein, jetzt kommt der Herr Pfarrer», sagt Hagen Gebauer dann.

Um 18 Uhr wird er eine Krankensalbung spenden. Der Patient wollte die Ankunft der Tochter abwarten, die berufstätig ist, sein Sohn ist schon bei ihm. Viele Menschen dächten bei der Krankensalbung an die letzte Ölung und dass es bei der Spende ums Sterben gehe, sagt der Spitalseelsorger. Dabei diene die Krankensalbung ebenso der Stärkung der Kranken.

Hagen Gebauer ist mitarbeitender Priester in der Gemeinde St. Martin in Seuzach. Eineinhalb Tage arbeitet er im Team der Spitalseelsorge des Universitätsspitals Zürich. Zusammen mit seinen katholischen, reformierten und christkatholischen Kolleginnen und Kollegen begleitet er dort Menschen während ihres Spitalaufenthalts.

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Da sein, wenn es ernst wird. Foto: Patrick Gutenberg

Heute Abend ist Hagen Gebauer als Pikett-Priester im Einsatz. Der Pikettdienst beginnt, wenn die katholische Spitalseelsorge ihren Dienst um 17 Uhr beendet hat. 2011 hat die Katholische Kirche des Kantons Zürich dieses Pikett ein-geführt. Damit soll in der Nacht, an den Wochenenden und Feiertagen ein Priester für seelsorgerliche Notfälle zur Verfügung stehen, der auch die Sakramente spenden kann. Für diese Ein-sätze waren zuvor alleine die Gemeindepriester zuständig, in deren Gemeinde ein Spital steht.


Grosse Unterstützung

Zielstrebig geht der Priester durch die langen, gedrungenen Spitalgänge. Das Universitätsspital kennt er wie seine weisse Kitteltasche. Wenn er während des Pikettdienstes in ein Spital gerufen wird, wo er noch nie war, kann er sich darauf verlassen, dass er vom Spitalpersonal empfangen wird. Die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal gefällt ihm. Immer wieder hört er von der Pflege, dass die Arbeit der Spitalseelsorgenden eine grosse Unterstützung sei – gerade während der akuten Phasen der Corona-Pandemie, in der auch Pflegende Seelsorgegespräche suchten, hat er das gespürt. Anders als in der Spitalseelsorge während des Tages, geht es in den Einsätzen des Priester-Piketts oft ums Sterben. Dann ist die Krankensalbung tatsächlich die letzte Ölung.

Hagen Gebauer biegt jetzt links ins Stationszimmer ab. Auf einer Tafel stehen Namen und Zimmernummern. Normalerweise würde jetzt die Information durch die Pflegeperson folgen. Wie geht es der Patientin? Ist sie noch ansprechbar? Was wünscht sie sich von mir? Wie geht es den Angehörigen? Nicht selten sind es die Pflegenden, die den Pikett-Priester angerufen haben: «Ich glaube, es würde der Patientin helfen loszulassen, wenn Sie jetzt vorbeikämen.» Heute jedoch weiss er schon, wer ihn erwartet, weil er den Patienten in seiner Schicht als Spitalseelsorger tagsüber getroffen hat.

Nach dem Anruf haben die Pikett-Priester höchstens eine Stunde Zeit, um vor Ort zu sein. Je nach Verkehr ist das stressig. Stressig ist auch das Schlafen in den Pikett-Nächten. Und dann gibt es Situationen, die auch den erfahrenen Priester überwältigen. Etwa die Nottaufe eines Neugeborenen in Lebensgefahr. Dann hilft ihm der Ritus. Entlang der Gesten, Gebete und Gesänge kann er seinen Dienst als Priester verrichten.

Wenn ihm dennoch die Worte fehlen, dann schweigt er. Er hört ohnehin lieber zu als zu sprechen. Aber viele Patientinnen und Patienten sagen nichts mehr. Hagen Gebauer spricht dennoch mit ihnen, weil er überzeugt ist, dass sie ihn hören. Schritt für Schritt erklärt er ihnen, was er als Nächstes tut.


Die Zeit verschwimmt

Der alte Mann hat seine Kräfte gesammelt und sitzt, von einem grossen Kissen gestützt, auf dem Spitalbett. «Zur Erinnerung an Ihre Taufe mache ich Ihnen ein Kreuz auf die Stirn.» Der Priester taucht seinen Finger in ein kleines weisses Weihwasserschälchen aus Porzellan. Er hält es auch den Angehörigen hin. Die Tochter zeichnet ein Kreuz auf die Stirn ihres Vaters, der die Augen schliesst und tiefer ins Kissen sinkt. «Jetzt lege ich Ihnen meine Hände auf den Kopf und bete ein stilles Gebet.» Das ist der Moment, in dem Hagen Gebauer Gott bittet, offen zu sein für den Menschen, den er vor sich hat.

Dann salbt er die Stirn und die Hände des Mannes. Die Berührungen empfindet der Priester als tiefe Momente, in denen die Zeit für ihn verschwimme, sagt Hagen Gebauer. Er nimmt die gelbliche, faltige Hand des Mannes in seine. Die andere Hand streckt er dem Sohn hin, der sie greift und fest hält, sehr fest.

In einem Kreis stehen sie da, in ihrer Mitte der alte Mann, der bald sterben wird. Hagen Gebauer spricht das «Vater unser». Manchmal hängt er noch ein «Gegrüsst seist du Maria» an, wegen der Stelle: «bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.» Wenn es passt, singt er das «Bruder-Klausen»-Lied: «Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir». In diesen Momenten komme es vor, dass sich die Lippen bewegen, die vorher fest verschlossen waren. Auch schon habe er ein Summen gehört.


Von der Hektik zum Frieden

Hagen Gebauer macht gerne Pikettdienst. Egal wie hektisch es war, bis er am Spitalbett steht. Wenn er das Spitalzimmer verlässt, ist Ruhe und Frieden eingekehrt. Im Pikettdienst erlebt der Priester bedeutende Momente im Leben von Menschen, die er noch nie gesehen hat. Ganz anders in der Spitalseelsorge, in der er die Patientinnen und Patienten ein Stück auf ihrem Weg begleiten könne.

Von seinen Kolleginnen und Kollegen aus der katholischen Seelsorge weiss Hagen Gebauer, wie wichtig es wäre, dass auch sie als Nichtgeweihte die Krankensalbung spenden könnten. Es mache keinen Sinn, einen Menschen im Spital seelsorgerlich zu begleiten und ihm dann die Krankensalbung nicht spenden zu dürfen.

Er weiss auch um die grosse Arbeitslast der Gemeindepfarrer. Im ganzen Kanton sind nur rund zehn Priester bereit, die gut 240 Piketteinsätze pro Jahr zu übernehmen. Es gebe Priester, die wollten den Pikettdienst obligatorisch machen, um die Arbeit auf viele Schultern zu verteilen, sagt Hagen Gebauer. Die Spende der Krankensalbung gehöre zu den Kernaufgaben eines jeden Priesters, argumentierten sie. Hagen Gebauer aber 
sagt, nicht jeder sei für das Pikett geeignet.


Tränen in den Augen

Jetzt teilt er die Kommunion aus und holt einen Plastikbecher mit Wasser. Oft fällt den betagten Menschen das Schlucken der Hostie schwer. Nach einem Dankgebet segnet der Priester die Anwesenden. Der alte Mann liegt entspannt in seinem Kissen. Die Tränen in den Augen des Sohnes sind getrocknet. Hagen Gebauer packt sein Porzellanschälchen wieder ein. Das Weihwasserfläschchen lässt er stehen. Zum Abschied schenkt er dem Patienten ein rund geschliffenes Olivenholzkreuz aus dem Heiligen Land. Die alten Hände umschliessen das feine Holz. «Danke, ich werde das Kreuz immer aufbewahren.»

Text: Eva Meienberg, kath.ch