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Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Musik im Körper

Regula Eiberle ist gehörlos. Sie fühlt die Musik in sich und singt sie in Gebärdensprache. Auch im Chor mit anderen.
15. März 2024 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Ich stehe an der Haustüre und überlege mir, wie die gehörlose Regula Eiberle im ersten Stock wohl auf mein Klingeln aufmerksam gemacht wird. Später zeigt sie es mir: ein Sensor lässt es in jedem Zimmer blinken. «Manchmal allerdings auch dann, wenn ich nahe beim Sensor staubsauge», erklärt sie mir lachend. Wir verstehen einander, wenn wir langsam und deutlich sprechen und dabei die Lippen gut bewegen. Regula hat die Lautsprache schon als Kind gelernt, obwohl sie bereits damals wenig hören konnte. Zunächst noch 20 Prozent, später gar nichts mehr. 

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Umso erstaunter bin ich, dass in ihrer hellen Stube ein Klavier steht. «Soll ich etwas vorspielen?», fragt sie. Ihre Augen funkeln. Sie setzt sich hin und öffnet die Noten: Etüden von Friedrich Burgmüller. Sie beginnt zu spielen. Klänge erfüllen den Raum, fliessend, sachte und zart, dann wieder laut und kräftig. Es sei eigentlich ein vierhändiges Stück. Sie spiele das jeweils mit einer Kollegin. «Ich spiele die unteren Töne, die spüre ich besser, weil die dickeren Saiten mehr vibrieren. Wir spielen Bach, Haydn, Mozart.» Ihre Begeisterung ist unübersehbar. Ich kann es kaum nachvollziehen, aber ja, sie spürt die Vibration der Töne über ihre Hand an den Klaviertasten, «das geht durch die Knochen und die Haut.»

Regula ist ein Mensch voller Musik. Ihr Schritt ist federnd, sie bewegt sich wie eine Tänzerin, Gestik und Mimik kommen aus ihrer Mitte. «Ja, ich liebe das Tanzen. Als Jugendliche und auch noch als junge Erwachsene habe ich Eistanz gemacht, in einem Club, mit einem Partner.» Die Figuren habe sie sich abgeschaut, den Rhythmus fliessend vom Partner übernommen, nach seinen ersten Schritten. «Das hat Spass gemacht», sagt sie, und ihre Augen funkeln erneut. «Ich habe immer irgendeinen Rhythmus im Kopf, ich spiele auch sehr gerne Djembe. Das ganze Leben ist ein Rhythmus.»

Dreidimensional singen und beten

Drei Tage später treffen wir uns in einem Raum unter der Kirche Maria Lourdes in Zürich Seebach. Hier übt der kleine «Gebärdenchor» der Pfarrei die Lieder für den nächsten Familiengottesdienst. Dreimal jährlich wird dieser gemeinsam mit der Behindertenseelsorge gefeiert. Die Frauen dieses kleinen Chores wollten zu den Gottesdienstliedern die zum Liedtext gehörenden Gebärden lernen. Regula zeigt sie ihnen. «Leben und Freude haben die gleiche Gebärde», staunt Rahel Wannenmacher. Sie koordiniert für die Pfarrei die musikalische Gottesdienstgestaltung. «Die Gebärde für Hoffnung finde ich auch so bedeutungsvoll: zwei Finger halten sich, um anzudeuten, dass Hoffnung entsteht, wenn wir einander helfen.»

Gebärdensprache ist dreidimensional und nimmt den ganzen Körper in Anspruch. «Bis jetzt habe ich das Vaterunser immer nur gebetet. Aber wenn ich es singe und dazu noch gebärde, dann geht es viel, viel tiefer.» So beschreibt es Rebecca Wietlisbach. «Die Gebärden drücken aus, was das Herz oder die Seele sagen möchten», findet auch Liliane Roten. Und Judith Tremp findet kaum Worte für ihre Begeisterung: «Mich berührt es jedes Mal. Ich bin so viel bewusster mit der Gebärde, es ist einfach cool, ergreifend und motivierend.» 

Die Musik im Blut

Dass Regula Eiberle musizieren kann, wurde dank ihren Eltern möglich, die sie ohne Druck gefördert haben. «Als Papa sah, wie ich meiner Schwester beim Klavierspielen zuguckte und mir merkte, welche Note zu welcher Klaviertaste gehört, da hat er mich auch in die Klavierstunde geschickt.» Allerdings sei die Klavierlehrerin dann gar nicht auf ihre Hörbeeinträchtigung eingegangen. Deshalb habe ihr Vater sie wieder rausgenommen und selbst mit ihr Klavier gespielt. «Papa war mein Ohr.» Er habe ihr alles gezeigt, gemeinsam hätten sie musiziert. «Zu Beginn hörte ich noch ganz schwach, was ich spielte.» Später haben mehrere Mittelohrentzündungen auch noch dieses Wenige zunichte gemacht. 

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«Wäre ich nicht gehörlos, ich wäre bestimmt Musikerin geworden.» Einen kurzen Augenblick lang wirkt sie wehmütig. «Aber ich vermisse nichts, ich habe andere Möglichkeiten bekommen, um mich auszudrücken.» In ihrer Jugend gab es für Gehörlose nur wenig Auswahl an Ausbildungen, hauptsächlich handwerkliche ohne Kundenkontakt. So lernte sie Damenschneiderin. «Haute Couture», wie sie betont. Allerdings fand sie das nicht besonders aufregend.

Später hat sie eine Ausbildung zur Ergotherapeutin gemacht, hat mit hörenden und beeinträchtigten Kindern und älteren Menschen gearbeitet. Danach bildete sie sich zur Gebärdensprachlehrerin weiter und begann, Menschen privat zu unterrichten. «So konnte ich besser auf die individuellen Bedürfnisse meiner Schülerinnen und Schüler eingehen.» In ihrer Jugend sei das Gebärden für Gehörlose verboten gewesen, weil man fürchtete, sie würden sonst die Lautsprache nicht lernen. 

Inzwischen hat sich Regula auf die religiöse Gebärdensprache spezialisiert, dazu internationale Kongresse besucht, bei der Entwicklung neuer Gebärden mitgearbeitet und dazu viele Schulungen absolviert. Die letzten zehn Jahre vor ihrer kürzlich erfolgten Pensionierung war sie bei der katholischen Behindertenseelsorge angestellt. Hier konnte sie ihre vielfältigen Begabungen und Erfahrungen vermitteln, ihre Freude am Weitergeben voll ausleben. Regula besuchte Pfarreien, um sie für den Einbezug beeinträchtigter Menschen und hindernisfreies Bauen zu sensibilisieren, und gestaltete inklusive Gottesdienste.

Gemeinsam Schritt für Schritt

In Maria Lourdes setzt sich Maria Bomann ans Klavier, Regula Eiberle umfängt den Resonanzkasten und nimmt die Vibration auf, dann stellt sie sich in die Reihe der Frauen und gebärdet das Lied, leicht wippend, von innen strahlend. «Wir haben es sehr schön miteinander, ich bin immer ganz stark berührt, wenn ich mit der Gehörlosen-Seelsorgerin Tanja Haas und diesen Frauen hier singen kann», sagt sie nach der Probe.

Am Sonntag danach stehen alle Frauen zusammen vorne in der Kirche Maria Lourdes. In den vorderen Bänken sitzen Gehörlose, aber auch andere Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.

Pfarrer Martin Piller spricht, auf den gros-sen Bildschirmen vorne links und rechts unter-streichen Fotos und Illustrationen, was er sagt. Hier stehen auch die Texte zu den Liedern, so dass alle mitsingen können. Eine lebendige Gemeinschaft entsteht, Fürbitten werden spontan geäussert, Kinder spielen im Gottesdienst auf der Seite. «Schritt für Schritt, de Bärg duruuf», singt der Gebärdenchor. Dieses Lied ist das Gottesdienst-Thema. Niemand ist zu klein oder zu schwach, um mutig voranzugehen. «Das Leben setzt sich durch, wie die Schneeglöckchen, die jetzt schon blühen», betont der Pfarrer. Und der Chor gebärdet: «Und chunnt en Stei, stohni druf und schrei: Ich gibe sicher nöd uf!» 

Text: Beatrix Ledergerber