Kirche aktuell

Gassenarbeit in Zürich Schwester Ariane: "Die Not nimmt zu"

Im November hat das Begegnungszentrum «Primero» zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und dem Langstrassenviertel seine Türen geöffnet für Menschen von der Gasse und aus dem Milieu. An einem normalen Wochentag geht die Tür auf und zu. Es herrscht Hochbetrieb und herzliche Gastfreundlichkeit.
14. Januar 2021 Katholische Kirche im Kanton Zürich

Die Winter-Kälte und der Schnee treiben die Menschen an die Wärme. Das umgebaute Ladenlokal ist wohnlich und einladend und erfüllt dennoch die Corona-Vorgaben. Jedem Ankommenden bieten die aufmerksamen Freiwilligen ein Getränk und einen Snack an. An einem Tisch spielen Freiwillige mit einem Mann UNO. Auf dem Sofa warten zwei Frauen warten auf ihren Termin bei der Ärztin, das Handy und eine Tüte Chips in der Hand.

In der kleinen Küche führt die «Chefin» des Ganzen, Sr. Ariane Stocklin, gerade ein Gespräch mit einer Frau, die nicht mehr im Sexgewerbe arbeiten möchte. «Wir haben im Moment mehrere Frauen, die aussteigen möchten. Für sie benötigen wir Arbeit und Wohnraum», erklärt die Gassenarbeiterin. Ziel ist, dass die Frauen durch das Geld, das sie mit ihrer neuen Arbeit verdienen, auch auf eigenen Beinen stehen können. Bis es soweit ist, hilft der Verein Incontro auf verschiedenste Art  und Weise. "Uns ist es wichtig, die Menschen in Würde und auf Augenhöhe zu begegnen", führt Schweister Ariane aus. 

Armut verschärft sich

Seit Beginn der Corona-Krise im vergangenen Frühjahr war Schwester Ariane mit ihrem Verein für die Menschen im Langstrassenviertel da. «Die Arbeit hat sich seither sehr verändert», erklärt Schwester Ariane. "Die Menschen verlieren ihre Wohnungen und geraten in bedrohliche Lebenslagen." Die Corona-Krise hat die Notlagen der Menschen auf der Gasse verschärft. Neu stehen in der Warteschlange Familien und Kinder für Essen und Lebensmittelsäcke an. Inzwischen verteilt Sr. Ariane mit den freiwilligen Helferinnen und Helfern täglich bis zu 300 warme Mahlzeiten - etwa zehnmal mehr als zu Beginn der Corona-Krise! 

«Unser Ansatz ist, Freundschaft zu leben. Das und die Begegnungen helfen den Menschen, mit ihrer oft schlimmen Situation umzugehen. Das gute Essen gibt Würde zurück.»

Hauskappelle, Rosenkranz und Beratung

Im «Primero» an der Rotwandstrasse ist eine kleine Hauskapelle integriert - für Ruhe und Erholung für die Besucherinnen und Besucher. Sie kommen zum Beten und zünden eine Kerze an. Die Gottesdienste an Weihnachten und Silvester waren gut besucht. Überhaupt spielt der Glauben bei den Menschen auf der Gasse und aus dem Milieu eine grosse Rolle. «Wir missionieren nicht. Die Menschen wissen aber selbstverständlich, dass Karl (Wolf) Pfarrer ist und ich Schwester bin. Sie kommen, um zu beichten oder einen Rosenkranz zu beten. Viele sind sehr, sehr gläubig. Wir leben hier die Beziehung zu Gott ganz speziell.» Im oberen Stock gibt es ein Büro und Beratungszimmer, unter anderem für kostenfreie Gesundheitssprechstunden einer freiwillig mitarbeitenden Ärztin.

Freiwillige im Einsatz

Seit Mitte Dezember haben sich mehr als 200 neue Freiwillige gemeldet, die bei der Essensausgabe helfen möchten. Später können sie sich dann auch im "Primero", dem Begegnungsort, engagieren. Die Freiwilligen stammen aus allen Schichten, jung, alt, mit unterschiedlichen Weltanschauen und verschiedensten religiösen HIntergründen. «Ihr Engagement zeigt die Sensibilisierung in der Gesellschaft – das ist ein Geschenk, nicht nur für die Menschen von der Gasse», weist Sr. Ariane Stocklin auch auf die positive Wirkung von Freiwilligen hin, die mit ihrem Einsatz häufig sich selbst und ihren Lebensentwurf zu überdenken beginnen. Hinzu kommt, dass die hohe Sensibilität der obdachlosen Menschen so manche Überraschung birgt. «Die Randständigen sagen dir tätsch-plätsch deine Probleme ins Gesicht. Das ist für manche der Freiwilligen absolut eindrücklich, zuweilen gar schockierend, vor allem wenn sie aus reichen Verhältnissen kommen.» Weiter redet die Theologin über den grossen Respekt, den sie den Menschen gegenüber hegt, die schon viel Schlimmes erlebt haben. «Dass sie überhaupt noch aufrecht stehen, ist ein Wunder.» Und wendet sich konzentriert dem nächsten Besucher zu, zugewandt und mit echtem Interesse. «Dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Kommst Du nachher einen Essensack abholen?»

 

Der Verein Incontro sucht für seine Arbeit ständige ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, aber auch Jobangebote und Spenden sind willkommen. Alle Informationen und Kontakte sind auf der Homepage des Vereins zu finden.