Liebe missbrauchte Brüder vom Provolo-Institut
Erschüttert vom Missbrauch der gehörlosen Kinder im katholischen Antonio Provolo-Institut in Verona schreibt Stefan Arnold ihnen einen Brief.
Liebe Brüder
Ich sitze in einem Raum der Stille einer Institution, die sich um kranke Menschen kümmert. Nachdenklich und betroffen schreibe ich Euch diesen Brief. Ich habe gehört, dass sich in aller Stille Männer und Frauen der Kirche an Euch vergangen haben. Eine Mitarbeiterin hatte im Fernsehen den Beitrag über den systematischen Missbrauch im Provolo-Institut in Verona gesehen. Sie erzählte zwei, drei Beispiele. Bereits nach dem ersten hätte ich ihr am liebsten gesagt: «Hör auf. Meine Seele hält dies nicht aus.»
Zigmal habt ihr geschrien. Zigmal bettelte Eure Seele um Hilfe. Zigmal haben sie Euch zum Schweigen gebracht.
Selbst Euer Bruder Franziskus in Rom hört Euch nicht.
Das alles macht mich sehr betroffen. Tiefe Trauer erfüllt mich. Als Leiter der katholischen Behindertenseelsorge frage mich: In was für einer Kirche arbeite ich? Wie kann ich in einer Kirche arbeiten, die Euch so misshandelt und Euer Weinen nie gehört hat?
Jesus hat Euch und zusammen mit Euch alle Menschen mit Behinderung immer wieder in die Mitte gestellt.
Die Frauen und Männer der Kirche haben Euch nicht in die Mitte gestellt. Sie haben Euch vor sich hingestellt. Sie haben Euch so platziert, dass sie Euch missbrauchen konnten. Ich kann und werde es nie verstehen.
In der Kirche reden wir immer wieder von den Menschen am Rand. Wenn wir auf Jesus hören und sein Wort ernst nehmen, gibt es keine Menschen am Rand. Er stellt sie immer in die Mitte. In der Mitte steht immer Ihr und nie – aber gar nie – die Kirche.
Am liebsten möchte ich Eure Adressen ausfindig machen und Euch nach Zürich einladen. Ich möchte Euch sagen: «Wir versuchen, Euch zu sehen. Wir versuchen, Euch zu hören.»
Mein Wunsch wäre, dass ihr sagen könntet: In der Kirche haben wir Menschen getroffen, die uns und unsere Not wahrgenommen und sich für uns eingesetzt haben.
Gleichzeitig wende ich mich an alle Menschen mit Behinderung, die vielen unter Euch, die mit Mimik und Körper kommunizieren: Wenn Ihr von Frauen und Männern der Kirche Gewalt erfahren habt, meldet Euch! Meldet Euch bei den unabhängigen und neutralen Fachleuten. Sie hören zu und wissen, was zu tun ist, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ihr, die gehörlosen Brüder, seid mit Gewissheit wie die Spitze des Eisberges.
Die offizielle Kirche betont immer wieder die Null-Toleranz. Ihr habt keine Toleranz erfahren. Ihr musstet hinhalten. Eure Seele haben sie mit Füssen getreten. Und als sie fertig waren, erwarteten sie von Euch Toleranz, indem ihr schweigen solltet. Wie hirnverbrannt, bestialisch und abscheulich!
In der Kirche wurden und werden Frauen und Männer zu Präventionsveranstaltungen eingeladen. Zu Recht.
Gleichzeitig ist es an der Zeit, dass die Kirche Sexualität endlich positiv bewertet. Eine positiv bewertete Sexualität wirkt sich positiv auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen aus.
Liebe gehörlose Brüder, ich wünsche, dass alle gehört werden, die gleiches erfahren haben.
Und wer weiss… vielleicht sehen wir uns in Zürich.
In grosser Betroffenheit sende ich Euch herzliche Grüsse aus Zürich
Stefan Arnold
Lieber Stefan
dein Brief hat mich berührt. Ich fühle mich ebenso hilflos diesen Skandalen, diesen Verbrechern gegenüber und leide mit den Menschen, die unter sexueller Gewalt leiden müssen. Wie kann man sich an wehrlosen Menschen vergehen und gleichzeitig mit den Menschen Liturgie feiern, Seelsorgegespräche führen, Kinder taufen....? Solche Menschen sind aus meiner Sicht keine Menschen- sondern Bestien!
Liebe Claudia, Deine Frage kann ich auch nicht beantworten. Wenn ich an die gehörlosen Menschen und die damaligen Kinder denke, nehme ich wahr, wie ich immer wieder den Kopf schüttle. Ich kann es schlichtweg nicht verstehen.
Nein! Nicht dieser Titel!
"Liebe Brüder" ist die richtige Anrede für dieses Schreiben! Die Absicht hinter dem Brief ist nobel, es ist schwer, sein Unverständnis über die Schändlichkeiten auszudrücken. Aber bitte reduzieren Sie die Betroffenen mit dem Adjektiv "missbraucht" im Titel nicht auf das Geschehene, wofür sie unschuldig sind. Sie brauchen nicht noch einen Stempel.
Gebrauchen Sie das Adjektiv für die Täter, die "missbrauchenden Täter!". Diese verdienen einen Stempel, sie sind eine Schande, sie müssen für ihre Taten gerade stehen!
Liebe Frau Lüthi
Als ich den Titel las, ging es mir sehr ähnlich wie Ihnen. In erster Linie sind die Menschen für mich «Brüder». Unabhängig davon, was sie erlebt haben. Gleichzeitig wollte ich in möglichst knappem Umfang verständlich machen, um was es im Blog geht. Ein weiteres Ziel des Titels war, dass Google den Blog zu bestimmten Stichworten findet. Zur Überlegung stand als Titel auch "Liebe Brüder von Provolo" - doch da wäre die Möglichkeit gross gewesen, dass nur diejenigen weitergelesen hätten, die bereits um die Hintergründe wissen. Im Sinn meines Grundanliegens, den Ungehörten (m)eine Stimme zu geben, bin ich diesen Kompromiss eingegangen. Es liegt mir also fern, die Betroffenen auf den Missbrauch zu reduzieren. Was Sie richtig sehen: In der Anrede des eigentlichen Briefes schreibe ich "liebe Brüder". So bitte ich Sie um Verständnis für den Spagat zwischen Titel und eigentlichem Brief.
Freundliche Grüsse
Stefan Arnold
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