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Im Berner Stadtteil Tscharnergut zeigt sich, wie vielfältig die Gesellschaft ­hierzulande ist. An diesem Ort denken vier Menschen mit unterschiedlichen Konfessionen den interreligiösen Dialog weiter.
26. Oktober 2023 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Vivek Sharma: Ich lebe in Olten, bin Hindu und bekomme als Religionsferner nur wenig vom interreligiösen Leben mit. Ich war auch noch nie im Haus der Religionen in Bern, das nächstes 
Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert. Ist es ein Biotop, oder hat es eine Ausstrahlung über die Region hinaus?

Rifa’at Lenzin: In der ganzen deutschsprachigen Schweiz ist das Haus der Religionen ein Begriff. Auch weil es nun doch schon eine lange Geschichte hat.

David Leutwyler: Es strahlt auch international aus: Berlin und Wien orientieren sich daran. Es gibt Kontakte nach New York, Toronto, Hannover, München, Salzburg und Jerusalem. Botschafter gehen ins Haus der Religionen, um es ihren Delegationen vorzustellen. 

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Sharma: Ein Projekt mit Ausstrahlung. Gibt es schon Nachahmer?

Noëmi Knoch: Ja, es ist ein Projekt, das inspiriert. So wurde etwa nach dem Vorbild in Bern ein «Haus der Religionen» mit vier Religionsgemeinschaften in Sri Lanka gegründet. Auch hier in der Schweiz hat das Haus eine Breitenwirkung, die durch das kulturelle Programm, die Bildungsangebote und Workshops erreicht wird.

Leutwyler: Im Haus der Religionen findet ja nicht nur «konzipierter» interreligiöser Dialog statt. Darüber hinaus sind die einen wegen des Mittagessens da, andere fürs Gebet, wieder andere besuchen einen Sprachkurs. Dieses Geflecht verschiedenster Menschen generiert neue Fragen des Zusammenlebens. Das Haus der Religionen ist ein Zeichen der Hoffnung auf ein respektvolles Zusammenleben in einer multikulturellen Welt. 

Lenzin: Man sollte auch bedenken, dass es in der Schweiz auf dem Gebiet des interreligiösen Dialogs nicht nur das Haus der Religionen gibt, sondern noch viele andere Gremien und Foren. Etabliert hat sich landesweit beispielsweise seit über 15 Jahren die Woche der Religionen, organisiert von Iras Cotis, der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz. Oder die Interreligiöse Dialog- und Aktionswoche IDA in der Ostschweiz. Schweizweit gibt es auch den Tag der offenen Moschee. Jedes Dialoggefäss hat ein anderes Zielpublikum und eine andere Wirkungsweise – wenn vielleicht auch nur im Kleinen.

Sharma: Vor 31 Jahren wurde der Verein Iras Cotis gegründet, der von rund 70 Religionsgemeinschaften und Organisationen getragen wird, vor 21 Jahren der Verein Haus der Religionen – Dialog der Kulturen. Wo sehen Sie die Anfänge des interreligiösen Dialogs?

Lenzin: In der Schweiz wurde an die Erfahrung angeknüpft, die man bei der innerchristlichen Ökumene gemacht hatte. Bei Iras Cotis, einer der Pionierorganisationen auf diesem Gebiet, ging es anfänglich darum, Geflüchteten – damals waren es Menschen aus Indochina – zu ermöglichen, ihre religiösen Bedürfnisse wahrzunehmen. 

Leutwyler: Am Anfang des Dialogs standen konkrete Bedürfnisse, etwa nach sakralen Räumen, denn die Religionsgemeinschaften hatten – und haben nach wie vor – grosse Schwierigkeiten, solche zu finden.

Knoch: Der Austausch unter Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen hat eine lange Geschichte. Die Institutionalisierung in der Schweiz begann nach dem Zweiten Weltkrieg; damals stand der christlich-jüdische Dialog im Fokus. 1946 wurde die christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft CJA gegründet. Seit den 1990er-Jahren kamen weitere Organisationen dazu, die auch als Reaktion auf das aktuelle Weltgeschehen und den demografischen Wandel entstanden. Der interreligiöse Dialog verändert sich, entwickelt sich weiter. Immer wieder stehen wir vor Anfängen. 

Sharma: Wurden die Ziele der interreligiösen Pioniere erreicht? 

Leutwyler: Es ist ja nicht die Idee, Ziele zu erreichen, die dann als erledigt gelten. Erst aus der Praxis des Zusammenlebens ergibt sich der Dialog. Das Leben, in welchem verschiedene Kulturen und Religionen zusammentreffen, findet überall im Alltag statt: in Schulklassen, in der Innenstadt, im Büro. Es geht um gegenseitiges Interesse, respektvolles Begegnen, aber auch um Regeln und um Finanzen. So gesehen ist man noch lange nicht am Ziel.

Lenzin: Im Haus der Religionen scheint zumindest das Zusammenleben im Kleinen gelungen zu sein. Es gab viele Schwierigkeiten, vieles musste ausgehandelt werden. Etwa mit Blick auf den Umgang mit Toten im Haus oder die Durchführung von Prozessionen. Es gilt immer wieder, einen Konsens zu finden. Das ist kein Prozess, der einfach abgeschlossen werden kann.

Knoch: Das Ziel, ein Haus mit verschiedenen Religionsgemeinschaften unter einem Dach zu bauen, mit würdigen Orten fürs Feiern und Beten, wie auch Austauschorte im «Dialogbereich» zu schaffen, wurde erreicht. Im Haus der Religionen – Dialog der Kulturen treffen Menschen mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hinter- oder Vordergründen automatisch aufeinander. Es ist ein Neben- und ein Miteinander. Und doch: Zu tun gibt es noch sehr viel.

Sharma: Wegen des Feldgebets -unter Anleitung des Imams Muris -Begovic geriet die Armeeseelsorge kürzlich in den Fokus der SVP.  Sie nahm die Öffnung in der Armee zum Anlass, Vorurteile in der Bevölkerung gegen -andere Religionen zu schüren. Wie kann dem begegnet werden? 

Leutwyler: Zum einen mit einer umfassenden Information, die in diesem konkreten Fall fehlte. Hier  hätte man wissen müssen, dass Armeeangehörige in aller Regel an Weihnachten, Ostern und Pfingsten frei haben. Hingegen leisten die muslimischen Armeeangehörigen am Tag des Opferfestes, dem höchsten islamischen Feiertag, ganz normal Dienst. So kam es auch, dass sie in einer Pause das gemeinsame Gebet verrichteten.

Lenzin: Voraussetzung ist immer, dass die Bereitschaft zum Dialog vorhanden ist. Parteien und Medien, die ein nicht existierendes Problem kreieren, um es dann bewirtschaften zu können, sind weder an einem Dialog noch an einer sachlichen Diskussion interessiert.

Leutwyler: Umso wichtiger ist es, mit Andersdenkenden in Kontakt zu sein. Wenn wir nur in unseren Bubbles unterwegs sind, verhindert das den Austausch. Erst im direkten Kontakt wächst Verständnis.

Sharma: Dann hat der interreligiöse Dialog bislang nichts gebracht?

Knoch: Doch. Für mich war die jüdisch-muslimische Solidarität im Kontext der Volksinitiative 2021 «Ja zum Verhüllungsverbot» eine positive Erfahrung. Ohne die vorausgegangene, beinahe zehnjährige interreligiöse Zusammenarbeit, das Kennenlernen, das Abbauen von Vorurteilen und das Aufbauen von Vertrauen, wäre ein Schulterschluss, wie es ihn im Rahmen des gemeinsamen jüdisch-muslimischen Statements gab, nicht möglich gewesen. 

Lenzin: Andererseits war die Minarettabstimmung 2009 für mich eine grosse Ernüchterung. Es zeigte sich, dass es nicht gelungen war, über den interreligiösen Dialog die öffentliche Meinung zu prägen.

Sharma: Wie funktionieren Staat und Religion zusammen? Gibt es Gremien, die Ansprechpartner sind? Wo sind die Schnittstellen?

Leutwyler: Ich sehe die Landeskirchen, die seit Jahrhunderten mit dem Staat verbunden sind – und daneben eine grosse Leere. Das ist eine Herausforderung, denn an den Schnittstellen zwischen Staat und Religionen gibt es viele offene Fragen. Das beginnt auf den Geburtsabteilungen und endet auf den Friedhöfen. Es braucht pragmatische Lösungen und gesetzliche Grundlagen. Diese sind bisher alle auf das Christentum ausgerichtet, und das deckt die Breite unserer Bevölkerung nicht mehr ab.

Lenzin: Bezüglich der Landeskirchen ist das Verhältnis Staat-Religion geregelt. Die übrigen Religionsgemeinschaften existieren für den Staat nicht. Muslime haben zwar als Individuen Rechte, sind aber als Religionsgemeinschaft im luftleeren Raum. Mich hat immer wieder erstaunt, wie wenig Bewusstsein in der Bevölkerung für dieses Problem vorhanden ist. Erfreulicherweise gibt es nun in einigen Kantonen, allen voran Zürich und Bern, Bestrebungen, nicht anerkannte Religionsgemeinschaften besser einzubinden. 

Leutwyler: Die Diskussion, dass es zwischen den Religionen in der Schweiz eine grosse Schieflage bezüglich der finanziellen Ressourcen gibt, ist in den letzten Jahren breiter geworden. Für solche Herausforderungen können im interreligiösen Dialog Lösungen entwickelt werden. 

Sharma: Ich kam 1979 in Indien zur Welt und bin in einer hinduistischen Familie aufgewachsen. Heute bin ich aber weit weg von meiner Religion. Damit bin ich Teil der stark wachsenden Gruppe der Religionsfernen. Laut Umfragen bezeichnen sich über dreissig Prozent der Schweizer Bevölkerung als konfessionslos. Inwiefern ändert sich die Rolle des interreligiösen Dialogs in einer Zeit, in der die Gesellschaft immer säkularer wird? 

Leutwyler: Religion ist Kern unseres Kalenders, unserer Sprache, unserer Bauten. Religion ist überall und nicht von der Kultur zu trennen. Ich empfinde es als Schwierigkeit, wenn Religion zunehmend vom Alltag abgetrennt und lediglich als «Gebet» oder «Einhaltung von Normen» verstanden wird. 

Knoch: Ich glaube, dass man im Dialog auch in einer immer säkulareren, religionskritischeren Gesellschaft mehr erreichen kann.

Sharma: Welches  ist Ihr Fazit?

Lenzin: Der interreligiöse Dialog ist an einem Wendepunkt, weil nachfolgende Generationen womöglich andere Anliegen haben. Und vor allem muss es im Zusammenleben vermehrt darum gehen, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln.

Knoch: Eine weiterhin zunehmende Professionalisierung und strukturelle gesellschaftliche Einbettung ist gefragt. Wir müssen der sprachlichen Viel-falt, der Verlagerung gesellschaftlicher Diskussionen in soziale Medien und der Beteiligung verschiedener politischer Ebenen gerecht werden. Dafür braucht es adäquate Ressourcen.

Text: Vivek Sharma, Stef Stauffer, Christa Amstutz