Kirche aktuell

Missbrauch in der Kirche Nichts aus der Vergangenheit gelernt?

Präventionsbeauftragter des Bistums Chur
Stefan Loppacher
Stefan Loppacher
Obwohl der polnische Bischof wusste, dass einer seiner Priester ein Sexualstraftäter war, unternahm er nichts. Im Gegenteil: Er schützte und versetzte den Täter einfach in eine andere Pfarrei.  Ein Youtube-Video dokumentierte den Fall und bringt jetzt einen Bischofsstuhl ins Wanken.
03. Juli 2020

Kürzlich berichteten polnische Medien, Bischof Janiak von Kalisz sei Anfang Juni mit 3,44 Promille Blutalkoholgehalt notfallmässig in ein Spital eingeliefert worden. Keine drei Wochen später veröffentlichte der Heilige Stuhl die Ernennung von Erzbischof Grzegorz Ryś, zum Apostolischen Administrator sede plena der Diözese Kalisz. Die Ernennung eines Apostolischen Administrators, trotz besetztem Bischofsstuhl (sede plena) bedeutet, dass der Papst Bischof Janiak rein kirchenrechtlich gesehen noch nicht definitiv abgesetzt hat, ihn aber als handlungsunfähig erachtet.

Heiliger Stuhl setzt Signale

Überraschend ist nicht nur diese sehr selten angewendete Massnahme, sondern auch der für kirchliche Verhältnisse extrem kurze Zeitraum, in dem Rom eingegriffen hat.

Dieses schnelle Einschreiten kann als weiteres Signal dafür verstanden werden, dass auch der aktive und passive Schutz von Sexualverbrechern sowie grobfahrlässiges Handeln von kirchlichen Entscheidungsträgern rasch geahndet und nicht länger toleriert wird. Trotzdem gilt es nüchtern betrachtet zu konstatieren, dass in Polen erst ein enormer medialer Druck nötig war, bis kirchliche Amtsträger ihre Verantwortung wahrgenommen haben und tätig wurden.

Youtube-Filme sorgen für öffentlichen Druck

Ins Rollen gebracht hat den Fall Janiak der per Crowdfunding finanzierte Youtube-Film «Versteckspiel» der Brüder Tomasz und Marek Sekielski. Es ist dies bereits der zweite Film der beiden Brüder, der für Furore sorgt.

Filmplakat "Nur sag es niemandem"
Filmplakat "Sag es niemandem"

Bei der Vorbereitung eines Vortrags zu Prävention von sexueller Ausbeutung im kirchlichen Kontext bin ich letztes Jahr auf ihren Dokumentarfilm «Nur sag es niemandem» gestossen. Die Brüder begleiten dabei mehrere Personen, die als Minderjährige von Priestern missbraucht wurden und bis heute von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Die Berichte der Betroffenen sind erschütternd und wühlen mich auf.

Schwer zu ertragende Schilderungen von Opfern

Eine längere Begegnung eines Opfers mit ihrem Peiniger ist nicht nur für die Betroffene selbst, sondern auch für den Zuschauer nur sehr schwer zu ertragen: Ein Täter gibt vor laufender Kamera zu, auch noch weitere minderjährige Mädchen missbraucht zu haben. Der Teufel habe ihn dazu verführt. Selbst nach Jahrzehnten kann dieser Priester kein Mitgefühl für seine Opfer zeigen und gibt sich damit zufrieden, gebeichtet und für die Betroffenen die Messe gefeiert zu haben. Der Film wurde innert wenigen Wochen über 15 Millionen Mal angeschaut.

Doppeltes Versteckspiel von Tätern und Verantwortlichen

Bereits der erste Film zeigt, wie auch in jüngster Vergangenheit Meldungen von Betroffenen durch kirchliche Entscheidungsträger ignoriert wurden und die Verantwortlichen glaubhaft beschuldigte Täter einfach an eine andere Stelle versetzt haben. Im zweiten Film steht dieses «Versteckspiel» im Zentrum: Täter können sich oft bis zu ihrem Tod einer gerechten Strafe entziehen und Bischöfe nehmen sie in Schutz.

Filmplakat "Versteckspiel"
Filmplakat "Versteckspiel"

Opfer des Systems Kirche

Im Zentrum der Anschuldigungen steht diesmal Bischof Edward Janiak, 1996-2012 Weihbischof in Breslau und seit 2012 Diözesanbischof von Kalisz. Er soll unter anderem dafür gesorgt haben, dass ein Priester, gegen den bereits ein staatliches Strafverfahren wegen Missbrauchs Minderjähriger lief, von Breslau nach Bydgoszcz versetzt wurde. Dort ist es offenbar zu zahlreichen weiteren Sexualstraftaten gegen Minderjährige gekommen. Oder, wie Marta Laudańska, die Vertrauensperson eines Betroffenen, im Film sagt:

„A. ist nicht nur Opfer eines Priesters. Er ist nicht nur das Opfer eines Mannes, der ihn vergewaltigte. Er ist ebenso das Opfer eines Systems. Ein Opfer der Kirche, des Systems, das einem pädophilen Priester ermöglichte, von einer Diözese in die andere versetzt zu werden.“

Zwei Erkenntnisse und viele Fragen

Für mich persönlich ergeben sich zwei wichtige Erkenntnisse daraus.

  • Erstens: Betroffene brauchen eine Stimme. Sie verdienen unsere Unterstützung. Es steht ihnen zu, dass wir uns für sie einsetzen.
    Ein Beispiel für einen solchen Einsatz ist die Gründung der ersten Selbsthilfegruppe in der Deutschschweiz für Menschen, die in der Kindheit/Jugend sexuelle Gewalt im kirchlichen Umfeld erlebt haben (www.missbrauch-kirche.ch).
  • Zweitens: Um als Kirche weiterzukommen brauchen wir vernünftige und mutige Führungspersönlichkeiten, die den Mut haben, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen griffige Massnahmen und transparente Kommunikation.

Mit Blick auf die Ereignisse in Polen stellen sich die Fragen:

  • Warum braucht es auch bei uns immer erst medialen Druck, damit fehlbare Amtsträger zur Verantwortung gezogen werden?
  • Warum fällt es uns so schwer, als Kirche aus innerer Überzeugung Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe in jeder Form zu ahnden?