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Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt In der Krise viel gelernt

Worunter haben junge Menschen in der Pandemie gelitten – und was hat sie geprägt? Wir haben im Gymnasium und in der Berufsschule nachgefragt.
31. März 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Es ist der erste Tag nach Aufhebung der Maskenpflicht in der Kantonsschule Wiedikon. Im Freifach Religion sitzen fünf Schülerinnen und Schüler in ihren Bänken. Die einen mit, die andern ohne Gesichtsmaske. Lehrerin Jasmin Gaam tritt vor die Wandtafel. Sie nimmt aber nicht die Kreide in die Hand, sondern das Natel, und fordert die Jungen auf, dasselbe zu tun. «Kennt ihr Mentimeter? Mit diesem Umfragetool steigen wir ins heutige Thema ein.» Über einen QR-Code registrieren sich die Teilnehmenden, dann werden ihre Antworten zu jeder Frage über den Beamer an die Wand projiziert. Was oft genannt wird, erscheint grösser, schnell ist sichtbar, was durch die Köpfe und Herzen geht.

Was war für dich in der Pandemie das Schlimmste? Ein Wort nach dem anderen ploppt auf: «Ungewissheit, aufeinander sitzen, Mangel an Kontakten, Angst, dass es nie besser wird, Angst vor der Krankheit, Einschränkungen, Sorge um Grosseltern...» – Was hat geholfen, diese Zeit trotzdem gut zu überstehen? Wieder wirbeln die Wörter auf: «Facetime mit Freunden, ablenken, rausgehen. Fokus auf anderes legen, Sport, Filme, gamen, basteln, joggen, neue Hobbys.» Das eindeutig grösste und dickste Wort ist Musik. Das hat diesen fünf Jugendlichen offensichtlich am meisten über die Krisenzeit hinweggeholfen. Die Lehrerin fragt nach: Welche Musik? Helen: «Mir hat es geholfen, dass ich viel und lange selber gesungen habe. Manchmal haben wir zusammen per Facetime gesungen, das war eine gute Ablenkung.» Masha ergänzt: «Musik hören und selber Musik machen hat geholfen. Ich konnte mir während des Lockdowns ein Keyboard ausleihen und habe viel darauf gespielt. Musik heitert auf!»


Selbständiger und reflektierter

Nun wechselt die Lehrerin die Methode. Die Schülerinnen und Schüler diskutieren in Zweiergruppen die nächste Frage: Was habt ihr aus dieser Zeit gelernt? Die Antworten werden auf  Blättern an die Wandtafel geheftet: «Nicht alles vor sich herschieben – Mehr Zeit draussen verbringen – Die Zeit, die man hat, gut nutzen – Mehr auf den Körper achten – Privilegiertes Land wertschätzen – Mehr auf Gesundheit achtgeben.» Dann erklären Einzelne etwas ausführlicher: Cvijeta: «Ich nehme mit, dass Einsamkeit oft traurig macht. Aber manchmal auch glücklich.» Die Lehrerin fragt nach: warum? «Ich habe neue Hobbys gefunden, coole Bastelarbeiten. Es hat mich glücklich gemacht, dass ich auch ganz allein etwas mit mir anfangen konnte.» Karina erklärt, dass sie dank dem Homeschooling nun  besser mit digitalen Medien umgehen kann. Celest kann nun «kochen und waschen!» Wie das? «Meine Mutter war wie wir die ganze Zeit zuhause, und sie hat nicht eingesehen, warum sie allein den Haushalt machen sollte. Also haben wir uns abgewechselt und ich habe viel gelernt.» 

Übereinstimmend finden sie: Routine ist wichtig. Helen: «Im Lockdown gab es nur eine Stunde Online-Unterricht, dann mussten wir selber arbeiten. Ich habe gelernt, mir einen Plan zu machen, mit regelmässigen Zeiten zum Lernen.» Etienne war öfter draussen: «Wir sind vier Kinder. Die grossen Schwestern hatten die ganze Zeit Zoom-Meetings, und der kleine Bruder war auch nicht leise. So habe ich bei schönem Wetter mit dem Laptop draussen gelernt.» Wenn er den ganzen Tag drinnen rumsitze, gehe es ihm schlecht. Deshalb achte er besser auf den Körper: «Ich habe meinen kleinen Bruder gezwungen, mit mir zu joggen oder Fussball zu spielen. Hat uns am Schluss beiden gutgetan», schmunzelt er. Und Masha ist sich bewusst geworden, dass «wir in einem privilegierten Land leben und das wertschätzen sollten». Zusammenfassend meinen alle, dass sie gelernt haben, selbständiger und reflektierter zu sein.


Kaum gearbeitet

Szenenwechsel: Allgemeine Berufsschule Zürich. Drei Lernende erzählen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf ihre Ausbildung hatte. Mirjam, angehende Köchin, hat in ihrem ersten Lehrjahr insgesamt gerade mal vier Monate arbeiten können. «Das hat mir natürlich gefehlt in der Ausbildung.» Dafür habe sie während des Lockdowns zusammen mit ihrem Freund viel gekocht in der WG. «Auch Pflichtgerichte?», fragt Christoph Muggli, Abteilungsleiter Bereich Lernende,  erfreut. Mirjam winkt ab und lacht. «Nein, gemütliches Hobbykochen.  Ab und zu etwas von der Liste, aber die Patisserie-Sachen kann man zuhause ja gar nicht kochen, da findet man keine Zutaten in gewöhnlichen Geschäften.»

Für Aysha, die in einem Restaurant arbeitet, das im Lockdown Take-away angeboten hat, war die lang anhaltende Kurzarbeit «fast ein Vorteil, da es weniger stressig war. Ich hatte bessere Ruhezeiten, musste am Abend nicht bis 23 Uhr arbeiten, und konnte mich so besser auf die Schule konzentrieren.» Philippa kennt beide Seiten: «Zu Beginn des ersten Lehrjahres konnte man mir alles in Ruhe zeigen und erklären, da nicht so viel lief im Hotel. Und es gab keine Abendschichten.» Doch dann hat es gedreht: «Später war ich oft ganz allein an der Rezeption für alles zuständig, dabei wusste ich ja noch fast nichts. Daher habe ich dann auch die Lehrstelle gewechselt.» Das habe aber nicht an Corona gelegen, betont sie. 


Mehr Überstunden

Auch wenn jetzt für viele die Pandemie gefühlt vorbei ist: im Gastgewerbe spürt man die Nachwirkungen immer noch stark, wie alle drei erfahren. «Es gibt zu wenige Fachkräfte, weil man während der Pandemie Mitarbeitende abgebaut hat», erklärt Christoph Muggli. «Daher ist es jetzt sehr anstrengend», sagt Mirjam. Es gebe sehr viel zu tun, sie müssten teilweise die Arbeit von fertig Ausgebildeten übernehmen und es gebe wieder mehr Überstunden. Bei der Nachfrage, ob das bei Lernenden überhaupt zulässig sei, ernte ich grosses Gelächter. «Ich ziehe den Hut vor unseren Lernenden», sagt der für die Lernenden zuständige Christoph Muggli ernst, «wie gut viele von ihnen diese hohe Belastung meistern.»

Mit der Krise sind die jungen Frauen unterschiedlich umgegangen. Während Mirjam findet, man habe insgesamt zu viel und unnötig Angst verbreitet, in ihrem Umfeld sei Corona für niemanden schlimm gewesen, so kennt Aysha die Angst um Angehörige, die Risikopatienten waren. Gleichzeitig hat sie aber mit Freunden «halblegale» abendliche Partys bei jemandem zuhause gefeiert, «weil der Kontakt mit den Kollegen einfach lebensnotwendig ist». Philippa traf sich mit Freunden und Kollegen draussen: die passionierte Volleyballerin hat bei geschlossenen Turnhallen den Outdoor-Sport entdeckt. 


Wahre Kollegen sind geblieben 

Aysha hatte bereits mit anderen Problemen zu kämpfen, als die Corona-Pandemie dazukam, und hat sich deshalb professionelle Hilfe geholt: «Ich habe gelernt, dass ich nicht alles in mich hineinlassen darf, ohne es zu verarbeiten, sonst explodiere ich. Ich achte besser auf mich, nehme meine Probleme ernst und will Verantwortung übernehmen.» Deshalb habe sie sich einen Hamster gekauft und ihm in ihrer Wohnung «ein kleines Paradies» geschaffen. «So hatte ich einen Grund, nach der Arbeit nach Hause zu gehen, weil ich für jemanden da sein musste.» Auch Mirjam hat viel fürs Leben gelernt: «Dass ich mich von den Medien nicht zu sehr beeindrucken lassen darf. Am Ende des Tages muss ich meinen Alltag meistern. Es geht mir psychisch besser, wenn ich auf mich achte und nicht zu sehr nach draussen schaue.» Philippa: «Ich konnte etwas runterfahren. Da nicht viel lief, hatte ich nicht den Stress, vielleicht etwas zu verpassen ...  Wir waren erstaunt, wie gut es in der Familie gegangen ist, obwohl wir so nahe aufeinander waren. Wir sind uns nähergekommen. Das bleibt, auch wenn jetzt natürlich wieder mehr läuft.» Und Aysha schliesst: «Die richtigen Leute aus meinem Umfeld sind geblieben. Und jene, die nicht die richtigen waren, sind gegangen. Das Beste für mich war, dass Corona meine Risikopatienten zuhause nicht erwischt hat. Geblieben sind die wahren Kollegen und mein Hamster.»

Text: Beatrix Ledergerber