Kirche aktuell

Die letzte Fahrt

Die letzte Fahrt
Arnold Landtwing
Arnold Landtwing
23. Dezember 2013

Eine Geschichte in der Geschichte. Es hat sich alles genau so zugetragen. Und es wurde Weihnachten.

Journalistin sucht Weihnachten

Vor einigen Jahren rief mich knapp vor Weihnachten die Journalistin einer Tageszeitung an. Sie füllte in der Weihnachtsausgabe der Zeitung eine Doppelseite mit acht Geschichten zu Weihnachten. Da erzählte unter anderem ein Christbaumverkäufer wie sein Feierabendbier pickelhart gefroren war oder ein Musiker von seiner Nervosität vor der Mitternachtsmesse. Nur eines fehlte noch: eine Geschichte wie ein Seelsorger Weihnachten speziell erlebt hatte. Trotz vielen Anfragen war nirgendwo jemand zu finden, der Weihnachten irgendwie anders oder speziell erlebt hatte. Im Verlauf des Gesprächs tönte ich an, dass die Weihnachtsnacht für mich schon eine sehr besondere Nacht sei. Meine Geschichte passe jedoch kaum in die gesuchte Sammlung, denn in meiner Weihnachtsgeschichte gehe es nicht um eine Geburt, sondern um das Sterben.

Die Journalistin wollte meine Geschichte hören und so erzählte ich. In Kurzform. Nur ein paar Minuten. Was dann folgte, war Stille. Minutenlang. „Darf ich das veröffentlichen? Genau das suche ich“, sagte die Journalistin.

Und so hat sich Weihnachten vor mehr als 20 Jahren in meinem Leben ereignet:

Das Weihnachtsgeschenk

Mein Vater war todkrank. Es war sein letzter Wunsch, Weihnachten zu Hause zu verbringen. Die Fahrt vom Spital nach Hause wird mir immer in tiefer Erinnerung bleiben. Seine Arbeitskollegen von der Transportabteilung des Spitals fuhren meinen Vater nach Hause. Den geräumigen, alten Krankenwagen, sein Arbeitsfahrzeug, hatten sie mit Tannästen und Christbaumkugeln geschmückt. Ein stummes Zeichen von Männerfreundschaft. Sie wussten, dass es die letzte Fahrt sein würde. In einem kleinen Konvoi fuhren wir durch die in weihnächtlichem Glanz erstrahlende Stadt Zürich.

In der Nacht des Weihnachtages verabschiedete sich mein Vater in aller Klarheit von seiner Ehegattin, von uns Kindern und seinen Enkelkindern. Um das Sterbebett herum versammelt, hielten wir uns im Kreis an der Hand und beteten gemeinsam ein Vaterunser. Dann erzählte er mit grossen Augen, von seinem Bruder und von anderen früher verstorbenen Menschen. Sie seien jetzt da, um ihn abzuholen und ins neue Leben zu begleiten. Dann starb er, 57 jährig.

In dieser Nacht berühren sich Himmel und Erde

Wir haben die Fenster weit geöffnet, damit seine Seele in das Heilige dieser Nacht eingehen konnte. Ich habe nie zuvor und auch nachher nie mehr eine Weihnachtsnacht erlebt, in welcher der Himmel so weit offen stand und die näher beim Leben war als diese Nacht, in der mein Vater starb. Es braucht keinen Esel als Transportmittel und keine Krippe, es können durchaus ein Krankenwagen und ein Sterbebett sein, damit an Weihnachten die Geburt göttlichen Lebens spürbar wird. Ich habe es selber erlebt: In dieser Nacht berühren sich Himmel und Erde.