Kirche aktuell

Aktuelle Ausgabe forum Pfarrblatt Reformator neu entdeckt

Vor 500 Jahren wurde Chur reformiert – doch wer war der Reformator? ­Constanze Broelemann und Veronika Jehle machen sich auf eine Spurensuche.
26. August 2023 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Wir haben uns erst bei dieser Spurensuche kennengelernt: Constanze Broelemann, die in Chur lebt, reformiert ist und in Bielefeld geboren wurde – und Veronika Jehle, die in Zürich lebt, katholisch ist und in Wien geboren wurde. Für die beiden Zeitschriften, für die wir arbeiten, das «forum Pfarrblatt Zürich» und das «reformiert. Graubünden» schreiben wir diesen Beitrag ökumenisch und abwechselnd gemeinsam.


Eine Entdeckung

Das hatte ich tatsächlich nicht gewusst: dass auch Chur einen eigenen Reformator hatte. Sein Name: Johannes Comander. Comander – zunächst fiel mir dieser Name auf. Er ist übrigens einfach die griechische Übersetzung des unauffälligen «Dorfmann», wie der Churer Reformator ursprünglich geheissen hatte. Vielleicht geht es mir aber auch wie so mancher Katholikin in Zürich: Chur war für mich bislang vor allem eines, nämlich Bischofsstadt.

Die reformierte Kirche in Chur feiert gerade 500 Jahre Reformation. So fuhr ich also in «meine Bischofsstadt», um mit ihrer reformierten Seite in Berührung zu kommen und mich auf die Spur von Comander zu begeben. Dabei traf ich auf Constanze. Zusammen besuchten wir die Inszenierung «Comander» des Laientheaters Frech, Freilichtspiele Chur, und liessen uns inspirieren. Drehbuchautor Felix Benesch hat ein Stück geschrieben, das das Geschehen in die Gegenwart holt. So entstand dieser «Fusionsbeitrag» zu den Stichworten des Stücks: Glaube, Wissen und Macht.

Veronika Jehle

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«Glaube»

«Ist es Ketzerei, wenn ich aus dem Griechischen übersetze und den Leuten nach der Bibel predige?», fragt Johannes Comander alias Dorfmann in dem Theaterstück «Comander»? Der um 1484 in Maienfeld geborene Johannes -Comander wollte das Evangelium «unverfälscht unter die Leute bringen». Allerdings war er kein Mann der grossen Worte und Gesten, dafür aber ein unermüdlicher Arbeiter für seine Sache. Der stille Pfarrer war immer darauf bedacht, einen Konsens zu finden und die Spaltung der Kirche zu verhindern.

Für die Bewahrer, die Gegenspieler des Bündner Reformators, waren seine Überzeugungen dennoch ein Bruch mit der Tradition. Sie warfen ihm vor, offen zum Widerstand gegen die Kirche aufzurufen und damit den gesellschaftlichen Frieden zu gefährden. Im Theaterstück wird die Figur des Comander zunächst als «Leisetreter» gezeichnet, der im Lauf der Zeit immer mehr Farbe bekennt. «Wann willst du mal klarer Position beziehen?», fragt ihn sein Unterstützer Bürgermeister Heim von Chur. Comander will lieber, ganz schweizerisch, die unterschiedlichen Überzeugungen in einem offenen Religionsgespräch klären. Das geschieht dann in den historisch belegten Illanzer Artikeln von 1526, einem Religionsgespräch zwischen Katholiken und Protestanten. Zum Ende hin geschah etwas im internationalen Vergleich Besonderes: jedes Dorf konnte nun selbst wählen, welcher Konfession es angehören wollte. Die Bündner Proklamation der Religionsfreiheit war eine sehr fortschrittliche und in Europa einzigartige Wahlfreiheit. Solange Johannes Comander lebte, blieb es daher friedlich in Graubünden.

Constanze Broelemann

 

«Wissen»

«Stellt euch vor: Einer meiner Schüler schreibt, dass jeder Mensch einen eigenen freien Willen hätte», sagt Jakob Salzmann im Theaterstück. Salzmann, 1484 im Rheintal geboren, war zunächst Schulmeister der Kathedralschule am bischöflichen Hof in Chur. Später leitete er die neu gegründete Stadtschule, in der «das Wissen vom Glauben getrennt wurde». Salzmann war ein enger Vertrauter Comanders. Im Gegensatz zu seinem stillen Freund ist Salzmann eher der offene, kommunikative Typ. Gemeinsam mit Comander war er einer der Hauptförderer der Reformation in Chur. Die Stadt und das Bistum gerieten in einen Machtpoker. «Aber ich habe neben meinem Glauben auch einen Verstand. Ich stelle Fragen und suche Antworten», lässt er sich vernehmen und wirkt damit wie eine Figur aus unserer Zeit. Als Lehrer konnte Salzmann zudem mit dem Wunsch, mehr selbst zu wissen und sich weniger vorgeben zu lassen, viel anfangen. «Ich bin aus tiefstem Herzen Lehrer. Aber ich kann doch in keiner Schule unterrichten, in der die Regeln von oben mächtiger sind als der Verstand? Ich möchte den Jungen zeigen, was für ein Abenteuer es ist, zu denken. Selbst zu denken!»

Der Umsturz lag überall in Europa in der Luft. «Der Wandel kommt, die Lage kippt. Die Frage ist, ob wir den Wandel gestalten.» Diese Aussage aus dem Theaterstück lässt sich direkt auf gesellschaftliche Entwicklungen unserer Zeit übertragen. Und einmal mehr zeigen sich die Zeit-Ebenen, mit denen das Stück «Comander» spielt. Die Menschen damals wehrten sich gegen die Machtfülle, die bei der katholischen Kirche und dem Adel kumulierte. Salzmann nahm auch an den Illanzer Gesprächen teil. Dort legte sein Freund Johannes Comander ein Papier mit 18 Thesen vor. Die Reformierten argumentierten gewandter und mit besserer Bibelkenntnis und konnten so ihre Sache verteidigen und propagieren. Die Diskussion blieb zwar offen, aber Salzmann und Comander trugen dazu bei, dass die Macht später in den Händen der Ortsgemeinden Graubündens lag.

Constanze Broelemann

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«Macht»

Es gibt zumindest zwei Arten von Macht: die Art, die einem Menschen zukommt, weil er authentisch ist, überzeugend und klar, der Begeisterung und der Befähigung wegen; und jene Art von Macht, die eine oder einer hat, bloss weil er oder sie eine bestimmte Rolle übernimmt, eine Funktion ausübt. Natürlich können beide Arten zusammentreffen und sich in einer Person vereinen – und daraus können mitunter starke – oder gefährliche – Situationen entstehen.

Bischöfe waren und sind mächtige Männer. Sie waren es, solange sie weltliche Macht innehatten; und strukturell innerhalb der römisch-katholischen Kirche sind sie es bis heute. Natürlich spielte der Bischof auch zur Zeit Comanders eine wichtige Rolle. Er hiess Paul Ziegler, geboren 1471 im schwäbisch-bayerischen Nördlingen. Dargestellt ist er allerdings als Lachnummer. Eine klapprige Gestalt, höchst unsicher, dröge, stumpf, aber eines: eitel. Er hat etwas Weibisches an sich und wird ausgerechnet von einer Frau gespielt, die ihren schwäbischen Dialekt missbraucht, in jeder Situation maximal dumm zu wirken. Bischof Ziegler ist also im besten Sinn eine Persiflage. Und er hat bei den Zuschauenden für Erheiterung gesorgt, beizeiten für Lachanfälle. Ich gebe es zu: auch bei mir selbst. Im Nachklang bemerkte ich: Es hatte darin Spott, wohl auch Hohn.

Macht spielt in religiösen Ämtern eine Rolle. Wer sie innehat, wird daran gemessen, wie sensibel er oder sie damit umgeht. Humor ermöglicht, Machtgefälle zu thematisieren – was aber, wenn er kippt, in Spott und Hohn? Und was, wenn die Mächtigen gerade das provozieren, indem sie sich entfernen von den Realitäten der Menschen, indem sie sich abschotten? «Wer die Macht hat, braucht keine Veränderung», heisst es im Theaterstück. Er steht dafür in der Gefahr, eine Lachnummer zu werden – und grossen Schaden anzurichten.

Veronika Jehle

 

Text: Veronika Jehle, Constanze Broelemann