Kirche aktuell

Interview mit Filmer Miklós Gimes «Wie lange kann sich Doppelmoral halten?»

Für den Dokumentarfilm «Unser Vater» begab sich Miklós Gimes sieben Jahre lang mit der Kamera auf eine Zeitreise, die bis in die 50-er Jahre des letzten Jahrtausends einen Bogen schlägt. Er lädt ein zum Nachdenken über Kirche, Gesellschaft und Tabuthemen in der eigenen Familiengeschichte.
03. April 2023 Katholische Kirche im Kanton Zürich

Wie passt mitten in die Karwoche, die «Heilige Woche», ein Film hinein über einen Priester, der mit mehreren Frauen mindestens sechs Kinder gezeugt hat?

Bei einem ersten Treffen mit den sechs Geschwistern spürte der Filmer Miklós Gimes intuitiv, dass im Untergrund der Geschichte um den Priester Toni Ebnöther Themen verborgen liegen, über die man sonst lieber schweigt. Es geht um den Leidensweg von vergewaltigten Frauen, sitzengelassenen ledigen Müttern und vaterlosen Kindern, um Familienangelegenheiten, Scham und Verletzungen. Mit grosser Sensibilität und fernab von jeglichem Boulevard gelingt es dem Filmer, den sechs Priester-Kindern Raum für ihre Geschichte zu geben. Vieles ist mit Schmerz und Leiden verbunden, für Betroffene hat die persönliche Karwoche viele Jahrzehnte gedauert. Der Film wälzt jetzt den schweren Stein des Schweigens weg.

Arnold Landtwing und Stefan Loppacher haben den Filmer Miklós Gimes zum Interview getroffen.

Sieben Jahre lang haben Sie sich mit diesem Film beschäftigt: Warum hat das so lange gedauert?

Miklós Gimes: Nach einem zügigen Start musste ich feststellen, dass sich der vielschichtige Stoff nicht in ein eindeutiges Filmthema hineinpressen liess. Jedes der sechs Kinder hat eine je eigene Geschichte. Die ganze Ebnöther-Story lässt sich weder ausschliesslich auf Missbrauch herunterbrechen, noch ist sie die harmlose Geschichte eines Alpen-Casanovas. Ich musste mir zuerst ein Bild machen von der Figur Ebnöther: Ist er ein Monstrum? Ist er «bloss» ungebremst im Umgang mit seinen Trieben? Ich lasse es bewusst offen, ich liefere das Material, dass der Zuschauer und die Zuschauerin sich ein Bild machen können.

Welches Thema ist für Sie der Kern des Films?

Ich bin zur Erkenntnis gekommen, dass ich meine Energien auf die sechs Geschichten konzentrieren will. Es hat sich herauskristallisiert, dass die Sicht der Kinder das Einheitliche und Entscheidende ist. Alle anderen recherchierten Informationen waren jedoch hilfreich, um die Geschichte zu verdichten.

In welcher Bandbreite bewegt sich denn die Geschichte?

Die Aufarbeitung unterscheidet sich in den einzelnen Biografien – angefangen beim jahrzehntelangen Schweigen einer Mutter aus Scham, bis hin zur Mutter, die sich mit einem Prozess gegen Ebnöther gewehrt und vor dem Gericht Alimente erstritten hat.

Mit dem Film geben Sie einige Antworten. Sind denn jetzt alle Fragen beantwortet?

Nein, Vieles bleibt nach wie vor im Dunkeln: Es gibt tatsächlich keine konkreten Belege dafür, dass der Bischof von Chur von Kindern gewusst hat. Gerade darum stellen sich Fragen: Wie ist die Kirche mit der Geschichte umgegangen? Wurden alle Archive gründlich durchsucht? Wurden Akten weggeworfen? Wurde Heikles damals mündlich besprochen und nicht protokolliert? Dann ist da die Frage nach einem weiteren Kind. Es gibt auch noch weitere Spuren von Ebnöther im Engadin, im Zürcher Unterland, im bernischen Riggisberg. Auch in Fribourg muss etwas vorgefallen sein.

Wie verhielt sich die Kirche bei den Recherchen und den Dreharbeiten: unterstützend oder verhindernd?

Das war sehr unterschiedlich. Unter den Vorgängern von Bischof Bonnemain wurden meine Anfragen in Chur mehrfach abgeblockt. Dies änderte sich an dem Tag, als Bonnemain Bischof wurde. Das war wie Tag und Nacht. Er hat mir sofort umfassend Einsicht in die Dokumente aus dem Archiv gewährt.

Haben Sie sich auch mit der Frage nach dem Zölibat auseinandergesetzt?

Ich habe jüdische Wurzeln, bin aber nicht religiös praktizierend. Ein wichtiger Faktor, der mich angetrieben hat, war die Neugierde. Ich habe möglichst viel gelesen, unter anderem das Buch des Moraltheologen Franz Böckle über das Zölibat aus den Fünfzigerjahren. Da habe ich realisiert, dass wache Geister die Diskussion ums Zölibat schon lange führen, aber offenbar irgendwer den Deckel draufhält.

Momentaufnahmen von Miklós Gimes während des Interviews:

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Welches Bild von Kirche haben Sie durch diesen Film gewonnen?

Vieles am System der katholischen Kirche erinnert mich an die kommunistische Partei der Sowjetunion, wie diese mit Dissidenten umgegangen ist. Sie hat sie manchmal eingebunden, meist aber ausgegrenzt. Und praktisch von einem Moment auf den anderen ist das ganze System kollabiert.

Vermuten Sie also, dass die Institution der Kirche auch kollabieren könnte?

Ich kann mir vorstellen, dass der katholischen Kirche als Institution ein solches Schicksal bevorsteht. Je näher man an die Spitze kommt, um so unappetitlicher wird es und um so fataler wird die Fallhöhe, wenn es um Doppelmoral geht. Die Kirche hält am Zölibat fest, im Wissen darum, dass ganz viele ihrer eigenen Führungsleute ihn nicht konsequent einhalten. Wie lange kann sich eine Institution halten, die auf Doppelmoral basiert?

Welchen Prozess haben Sie mit den Kindern während den Dreharbeiten durchlaufen?

Die sechs Kinder sind bewusst auf mich als Filmer zugekommen. Ihnen war klar, dass sie sich auf einen Weg begeben, von dem niemand genau wissen konnte, wohin er führen wird. So verschieden die Geschwister sind, so verschieden waren die Interessen, die sie mit dem Film verbunden haben. Zu diesem Prozess gehörte, dass im Verlauf der Zeit Informationen aufgetaucht sind, die auch für sie neu waren und die sie entsprechend beschäftigt haben.

Was erhoffen Sie sich vom Film?

Zuerst hoffe ich, dass der Film eine Forschungsreise ist, die der Verarbeitung hilft. Und ein zweiter Aspekt ist das Tabuthema, wie Kleriker mit Sexualität umgehen. Dieses Thema kommt jetzt aufs Tapet, oder besser: auf die Leinwand. Deshalb interessiert sich die Gesellschaft für diesen Film.

Tabuthema Klerikersexualität: Wie stehen Sie nach diesem Film zum Zölibat?

Seien wir ehrlich und realistisch: In der Realität ist der Zölibat doch längstens abgeschafft, die Doppelmoral ist Teil des katholischen Systems. Die Verantwortlichen wollen es einfach noch nicht wahrhaben.

Ich fände es sehr interessant, wenn sich die Kirche solchen Themen stellen würde. Vielleicht gelingt es auf den Podien zum Film, offen zu diskutieren und das Thema aus der Gerüchteküche in einen öffentlichen Raum herauszuholen.

Wie soll es Ihrer Meinung nach denn weitergehen?

Die Kirche unternimmt derzeit viel in Sachen Prävention und orientiert sich für den professionellen Umgang in Seelsorgesituationen an ethischen Forderungen der Zeit. Der Zölibat aber bleibt. An der Frage eines Zugangs der Priester zu einer entspannten Sexualität wird wenig gearbeitet. Ich hoffe, dass die Diskussionen weitergehen. Die Kirche soll endlich die Realität anerkennen.

In Chur kommt übrigens am 5. April nach der Filmvorführung auch Bischof Bonnemain aufs Podium. Dass er dazu bereit ist, ist für mich keine Selbstverständlichkeit.

 

Hinweise

Miklós Gimes flüchtete 1956 als Sechsjähriger mit seiner Mutter aus Ungarn in die Schweiz. Nach dem Studium an der Universität Zürich arbeitete er seit 1985 beim «Tagesanzeiger» als Redaktor beim «Magazin» und zeitweise als stellvertretender Chefredaktor. Seit 1997 widmet er sich schwergewichtig dem Film.

Der Film startet am 6. April im Kino, alle Informationen zu Aufführungsorten und Podien finden sich auf der Homepage www.unservater.ch

Am 12. April organisiert die Paulus Akademie in Kooperation eine Filmvorführung mit anschliessendem Podium. Im Gespräch auf dem Podium sind Karin Iten (Fachfrau zur Prävention von Machtmissbrauch, Präventionsbeauftragte Bistum Chur), Josef Annen (ehemaliger Generalvikar Zürich/Glarus), Lisbeth Binder (Protagonistin) und Miklós Gimes (Regisseur)

Eine kurze Übersicht über die ersten Berichte zum Film gibt es hier.