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Aktuelle Ausgabe forum-Pfarrblatt Verantwortliches Handeln im Alltag

Was bedeutet Unternehmensethik, wenn es mit der Ethik ernst wird? Wenn all die schönen Ideale dem alltäglichen Handeln ausgesetzt werden? Wir haben drei Unternehmer gefragt, welche Ansprüche sie an sich selbst und ihre Unternehmen stellen.
16. September 2021 Katholische Kirche im Kanton Zürich

 

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Stellen Sie sich vor, Sie gründen ein kleines Unternehmen. Ein Start-up. Vielleicht im Medizintechnikbereich. Welche Ethik soll ihre Firma vertreten? Welchen Beitrag soll ihr Unternehmen zur Gesellschaft leisten? Wie soll der Umgang unter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sein?

Vielleicht legen Sie wie die Start-up-Gründer Mark Bispinghoff und Andreas Schmocker Wert darauf, dass alle Mitarbeitenden Geschäftsreisen unter acht Stunden mit dem Zug zurücklegen. Vielleicht suchen Sie nach einer wiederverwendbaren Spritze, um Füllungen in den Zahn zu spritzen. Vielleicht wollen Sie Mitarbeitenden eine interessante, gut bezahlte und sichere Arbeit mit langfristiger Perspektive ermöglichen. 

Gratulation: Ihr Unternehmen konnte sich auf dem Markt etablieren. Aber nun stehen Sie vor der Realität: Die Mitarbeitenden wollen schlichtweg nicht acht Stunden im Zug sitzen. Die Zahnärzte kaufen keine in Europa produzierten Glasspritzen, die dreimal so viel kosten wie Plastikspritzen aus China. Und Sie stellen spezialisierte Mitarbeiter für eine ganz bestimmte Aufgabe ein – aber die Aufgaben in einem Start-up verändern sich ständig. Und mit den neu anfallenden Aufgaben ist die Mitarbeiterin, die Sie vor drei Monaten angestellt haben, nun unglücklich oder auch bei bestem Willen nicht mehr qualifiziert.

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Wir haben drei Unternehmer zu ihren Erfahrungen mit Unternehmensethik in der Praxis befragt: Lorenz Schmid, Inhaber eines Familienbetriebs, Mark Bispinghoff, Mitgründer eines ETH-Spin-offs, und Rolf Soiron, ehemals Verwaltungsratspräsident eines internationalen Konzerns. Ergeben haben sich drei spannende und facettenreiche Einblicke.


Entwicklung ermöglichen

Lorenz Schmid ist als Apotheker in die Fussstapfen seines Vaters getreten. Ihm ist es besonders wichtig, den Mitarbeitenden eine langfristige Perspektive und Raum zur Entwicklung zu bieten. Da er mit den Arbeitskollegen mehr Zeit verbringt als mit der Familie, legt er Wert auf einen inspirierenden Umgang untereinander. Die Grundlagen dafür: niedrigschwellige, inoffizielle Gespräche ermöglichen und sich für persönliche Anliegen der Mitarbeiterinnen wie Trauer, Freude oder Liebeskummer Zeit nehmen. Auch ein guter Lohn gehört dazu.

Doch im Apothekenalltag ist es schwierig, Räume zu schaffen, in denen niemand ein Gespräch stört. Und wenn man gleichzeitig verantwortlicher Apotheker und Geschäftsführer ist, wird die Zeit immer zu knapp. Das grösste Problem jedoch: Für Pharmaassistentinnen gibt es kaum Entwicklungsmöglichkeiten. Und schliesslich: Für eine attraktive Entlöhnung muss der Umsatz stimmen. Da in der Schweiz Ärzte selbst Medikamente verkaufen dürfen, ist die Nachfrage nach Medikamenten in den Apotheken geringer als in anderen Ländern. Für Nastüechli und WC-Papier, die Lorenz Schmids Vater noch in grossen Mengen verkauft hat, gehen die Kunden heute zu Coop oder Migros.


Gesetzespielraum nutzen

Lorenz Schmid hat für diese Herausforderungen innovative Lösungen gefunden: Seinen Pharmaassistentinnen bietet er Weiterbildungen an, sodass sie auch impfen und Covid-Tests durchführen dürfen. Schon jetzt baut er eine Mitarbeiterin zur Nachfolgerin in der Geschäftsführung auf und leitet die Übernahmefinanzierung in die Wege. Um auch in Zukunft gute Löhne zahlen und die Arbeitsplätze sichern zu können, erweitert er die Apotheke zu einem Gesundheitszentrum, das erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten sein soll. Als er mit dem Umbau begann, gab es allerdings noch keine rechtliche Grundlage für ein Gesundheitszentrum. Auch für Covid-Tests in Apotheken fehlte zunächst die gesetzliche Regelung. Innovation, das bedeutet für Schmid: «Mit Verantwortung den Gesetzesspielraum nutzen.» Anders sei Weiterentwicklung nicht möglich. Bis 2008 sah das Gesetz noch nicht vor, dass in Apotheken geimpft wird. Mittlerweile sind die Apotheken fester Bestandteil der Impfstrategie des Kantons Zürich. Treibender Akteur dafür war unter anderem Lorenz Schmid. 

Er versteht sich als Vertrauensperson und ersten Ansprechpartner für Fragen zur Gesundheit. Vertrauen bringt Verantwortung mit sich. Herausfordernd ist es für Schmid, wenn die Kunden Produkte wünschen, deren Wirksamkeit nicht belegt ist. Schmid hat einen Doktortitel in Pharmakologie und noch immer schlägt das Herz des Wissenschaftlers in ihm. Aber der Kunde ist König und Schmid überlässt dem Käufer die Entscheidung, solange dieser selbst bezahlt. Eine Empfehlung gibt Schmid nur für Medikamente, für deren Wirkung es einen wissenschaftlichen Nachweis gibt. Der Apotheker ist überzeugt: Eine gute, ethisch korrekte Beratung führt auch zu wirtschaftlichem Erfolg.

Ausserhalb der Personalführung und Kundenberatung stösst der Apotheker allerdings schnell an Grenzen des ethischen Handelns. Auf die Herstellung der Medikamente hat er keinen Einfluss. Es stört ihn, dass die Hersteller ihre Produktion bedingt durch den Preisdruck in Billiglohnländer verlagern. Auf den Medikamenten steht nicht einmal, wo sie produziert werden, nur der Ort der Zulassung muss vermerkt sein. Schmid wünscht sich, dass die Arbeitsbedingungen genauso gut kontrolliert würden wie die Sicherheit der Medikamente. Und was tut Lorenz Schmid, um den ökologischen Fussabdruck seiner Apotheke zu verkleinern? Auch hier sind die Möglichkeiten gering. Die Medikamentenlieferungen auf zweimal wöchentlich zu begrenzen, würde nicht den Erwartungen der Kunden entsprechen.


Unternehmen ein Gesicht geben

Wer Bereiche wie Umweltschutz oder gute Arbeitsbedingungen auf globaler Ebene angehen will, der muss wie Rolf Soiron in die Verwaltungsräte der grossen Schweizer Firmen kommen. «Eine Verwaltungsratspräsidentin oder ein Verwaltungsratspräsident kann einem Unternehmen ein Gesicht geben», ist Soiron überzeugt. Sie oder er könne beispielsweise entscheiden, ob der Verwaltungsrat Themen wie die Quecksilberverschmutzung durch Lonza im Rhônetal ernst nimmt oder nicht. Eine glaubwürdige Präsidentin, ein glaubwürdiger Präsident habe Einfluss auf die Kader des gesamten Unternehmens, so Soiron. Der Verwaltungsrat entscheide, ob ein Unternehmen sich rein um die Zahlen kümmere oder ob auch gesellschaftliche Anliegen wie Umwelt-, Tierschutz und gute Arbeitsbedingungen bedacht werden. 

Elf Jahre lang war Rolf Soiron Präsident des Verwaltungsrates eines der grössten Baustoffproduzenten weltweit. Die Produktion von Zement setzt ungemein viel CO2 frei. Ein Verwaltungsrat, der Umweltfragen ernst nimmt, steht vor der Wahl: Soll Holcim keinen Zement mehr produzieren, um CO2 zu sparen, oder soll die Zementproduktion so umweltverträglich wie möglich gestaltet werden? Holcim entschied sich für Letzteres und investierte – lange bevor der Gesetzgeber dies erzwungen hat – in umfangreiche und teure Programme zur CO2-Vermeidung.

So hat Holcim 2004 beispielsweise die Stiftung für nachhaltiges Bauen gegründet, deren Ziel es ist, in baunahen Industrien überall auf der Welt die Diskussion um nachhaltiges Bauen in Gang zu halten. Soiron sagt heute: «Als wir mit den Programmen zur CO2-Vermeidung anfingen, musste ich immer wieder feststellen: Das genügt mir nicht! Ich möchte mehr tun. Es ist unbefriedigend, festzustellen, dass man nicht alles auf einmal anpacken kann, wenn man erst am Beginn steht.» Hinzu kam, dass Soiron in den 90er-Jahren schon kleine Schritte gegen Widerstand durchsetzen musste. Es gab zahlreiche Stimmen, die gegen die Investitionen in die CO2-Vermeidung und Energieeffizienz waren, da sie teuer sind und keinen finanziellen Gewinn bringen. In dieser Situation hätte eine konsequente staatliche CO2-Preissetzung geholfen, sagt Soiron.


Zu Fehlern stehen

Im Gespräch erstaunt die aktive Rolle des Staates, die sich Rolf Soiron wünscht, der ehemals auch im Vorstandsausschuss der Economiesuisse war. «Der Gesetzgeber sollte gleich lange Spiesse für alle schaffen.» Wenn Länder wie China Chemieprodukte und Zement billiger nach Europa importieren können als die heimische Industrie, weil sie sich nicht an Umweltschutzrichtlinien halten, hemme das den Wettbewerb. Soiron kritisiert, bei der Economiesuisse komme der urliberale Ansatz zu kurz, nämlich internationale Handelsbedingungen zu definieren, um gute Wettbewerbsvoraussetzungen zu schaffen.

Das alles bedeutet nicht, dass Soiron den Konzernen ihre Verantwortung für gute Arbeitsbedingungen und umweltverträgliche Produktion abnehmen will. Vor allem bei ihren Tochtergesellschaften könnten internationale Unternehmen viel bewirken. Ethisch heikle Zulieferer seien aus der Schweiz heraus juristisch schwer verfolgbar. Wenn die Gesetzgebung vor Ort die Massregelung korrupter Strukturen oder unethischer Produktionsweisen nicht übernehme, seien die Unternehmen gefordert, dies bei ihren Zulieferern selbst zu tun.

Passieren in der eigenen Firma Fehler, sei es wichtig, zu diesen zu stehen. Das gelte auch, wenn frühere Generationen diese verursacht hätten. «Die Informationsstrukturen von heute machen es fast unmöglich, etwas zu verstecken. Gehen Sie lieber selbst damit an die Öffentlichkeit, um zu zeigen, dass Sie das Problem ernst nehmen.» Soiron kann ein Lied davon singen. Er war Verwaltungsratspräsident von Lonza, als die Quecksilberverschmutzung im oberen Rhônetal entdeckt wurde. Um Fehler transparent gegenüber der Gesellschaft zu kommunizieren, braucht es eine bewusste Entscheidung und Mut der Verantwortungsträger. Soiron warnt: «Organisationen haben – wie man auch an der katholischen Kirche sieht – Mühe, ethisch problematische Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Aus Angst, sich selbst zu destabilisieren, halten sie schwierige Themen gerne unter dem Teppich.»

Auch wer sein Leben lang versucht hat, seinen eigenen Werten treu zu bleiben, ist nicht davor gefeit, rückblickend sagen zu müssen: «Das würde ich heute anders machen.» Soiron, der mit Mitte 40 überzeugt für Tierversuche eintrat, sagt heute: «Unsere Zivilisation trägt Verantwortung für die Tierhaltung!» Die Pharmaindustrie habe erkannt, dass die Produktion nicht zu Lasten des Tierwohls gehen dürfe. Nun müssten Lebensmittelindustrie und Kosmetikbranche nachziehen. Er selbst würde heute nicht mehr so vehement für Tierversuche eintreten wie früher.


Ethik braucht Erfolg

Andreas Schmocker und Mark Bispinghoff haben ihre Firma Lumendo von Anfang an mit hohen ethischen Ansprüchen gegründet: umweltverträgliche Verpackungen, keine unnötigen Flüge, Arbeitsplätze schaffen, Perspektiven bieten. Auch dreieinhalb Jahre und zahlreiche Hürden später ist Mark Bispinghoff noch überzeugt: «Werte und Erfolg stehen einander selten im Weg. Wenn wir jetzt nachhaltige Strukturen aufbauen, hat das langfristig einen guten Einfluss auf die Entwicklung der Firma. Vieles ist nicht vorhersehbar.»

«Am einfachsten», sagt der Jungunternehmer, «klappt ethisches Handeln im Bereich der Mitarbeiterführung. Denn hier agiert und entscheidet man persönlich.» Wenn man erklärt, warum man etwas so tut, wie man es tut, würden einem die Mitarbeitenden meistens Verständnis entgegenbringen. Ein Start-up sei stark auf gute Mitarbeitende angewiesen. Wenn ein Unternehmen nur aus fünf bis zehn Personen besteht, hängt ungemein viel von jedem Einzelnen ab.

Für Bispinghoff und Schmocker ist klar: Entlassen wird nur, wenn es nicht mehr anders geht. Immerhin besitzen die Mitarbeiterinnen wertvolles Wissen über die Firma. Die beiden Firmeninhaber würden den Angestellten gerne höhere Löhne zahlen, doch dafür ist zu wenig Geld da. «Je geringer der Gewinn bei einem Produkt ist, desto kleiner ist der Spielraum für ethische Entscheidungen», bedauert  Bispinghoff.

Zu Vorstellungsgesprächen lädt Lumendo bewusst auch unkonventionelle Bewerberinnen ein, um allen vorurteilsfrei eine Chance zu geben. Die Gründer mussten allerdings feststellen, dass die Bewerber sich grosse Hoffnungen machen, wenn sie zum Gespräch eingeladen werden. Wenn sie die Stelle im Anschluss nicht bekommen, ist die Enttäuschung umso grösser. «Egal wie man es macht, macht man es falsch», sagt der hochgewachsene Westfale. 

Zum Glück stehen die Unternehmerinnen und Unternehmer, Start-up-Gründer und Verwaltungsratspräsidentinnen nicht alleine da, wenn es um ethisches Handeln im Unternehmen geht. «Es braucht ein Bewusstsein und Mitdenken bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von der Produktion über die Logistik bis hin zum Marketing und Verkauf», betont Rolf Soiron. Die Mitarbeiterinnen seien es, welche die Kollegen um sie herum und die Unternehmenskader für Problembereiche sensibilisieren. Sie gestalten den Ton des täglichen Umgangs und prägen durch die Werbung die gesamte Gesellschaft. Whistleblowing, das Offenlegen von Problemen, sei deshalb wichtig und unterstützenswert, so Soiron. Er gesteht allerdings ein, dass er das anders gesehen hat, als er noch selbst aktiver Unternehmer war.

Von Debatten wie der um die Konzernverantwortungsinitiative wünscht sich Soiron, dass auch anerkannt wird, dass viele Unternehmerinnen und Unternehmer Verantwortung für ihr Handeln übernehmen wollen. Mark Bispinghoff, Rolf Soiron und Lorenz Schmid versuchen, diesen Anspruch im praktischen Alltag zu verwirklichen.

Text: Miriam Bastian, freie Mitarbeiterin