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Pfarrer Ivan Machuzhak organisiert von Zürich aus Hilfe für seine Landsleute in der Ukraine. Er steht in Kontakt mit Menschen an der Front und auf der Flucht.
17. März 2022 Katholische Kirche im Kanton Zürich

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Ivan Machuzhak, wie geht es Ihnen?

Ich frage mich gar nicht, wie es mir geht, ich muss einfach etwas tun. Es geht mir jedenfalls besser als den Menschen, die bombardiert oder auf der Flucht beschossen werden. Meine Bekannten rufen im Internet zum Gebet auf, weil die Waffenruhe nicht eingehalten wurde. Mir geht es dementsprechend. 

Was wissen Sie von Ihren Verwandten in der Ukraine?

Meine Nichte ist jetzt bei uns. Sie war drei Tage unterwegs und davon 20 Stunden an der Grenze. Ich telefoniere immer wieder mit meiner Schwester, weil sie so traurig ist ... Sie ist zwar froh, dass ihre Tochter in Sicherheit ist, aber zugleich traurig, denn alles ist ungewiss ... 

Ihre Schwester bleibt?

Ich habe drei Schwestern in der Ukraine und einen Bruder, niemand will raus, alle warten und hoffen, dass ein Wendepunkt kommt. Die meisten glauben, dass wir siegen. Und wenn nicht, dann … Man will die Heimat nicht verlassen. Was nehme ich mit? Ein bisschen Erde vom Grab meiner Eltern? Oder was ist das Wesentliche? Das macht die Menschen ratlos. Diese Entscheidung ist ein so schmerzhafter Prozess ... Ich wäre ruhiger, wenn sie kämen. Aber die Heimat zu verlassen, ist so schwer.

Man lässt alles zurück.

Ja, und es ist nicht nur das Materielle ...  Man kommt sich schlecht vor, wenn man die Heimat in der grössten Not zurücklässt, vor allem bei diesem russischen Angriffskrieg, wie wir ihn jetzt erfahren. Ich weiss auch nicht, was ich machen würde, wenn ich hier nicht meine Frau und meine Kinder hätte.

Sie organisieren Hilfe. Was tun Sie?

Ich vermittle Unterkünfte für Bekannte aus der Ukraine und organisiere Hilfstransporte. Als Spitalseelsorger habe ich Kontakte zu Spitälern, die bereits Medikamente und medizinisches Gerät zur Verfügung gestellt haben. Im Westen der Ukraine sind viele Flüchtlinge aus dem Osten, und nun gehen die Essensvorräte aus. Kleider sind vorhanden. Auch mein Sohn hat in der Schule eine Sammelaktion gestartet. Ich organisiere den Transport dieser Sachen nach München, wo es eine Gruppe von Freiwilligen gibt, die ich von meiner früheren Arbeit her kenne. Sie bringen alles an die Grenze zur Ukraine.

Wie kann man Sie unterstützen?

Wer helfen möchte, kann sich in einer Pfarrei melden. Mir hilft es, wenn die Pfarrpersonen die Hilfe koordinieren und dann mit mir Kontakt aufnehmen. Ich schaffe es nicht mehr, jedem und jeder einzeln zu antworten. Ich habe ja auch noch meine Arbeit im Spital.

Was ist bei der Koordination der Hilfe am schwierigsten?

Dass die Hilfsgüter zur rechten Zeit dahin kommen, wo sie benötigt werden. Unser Bischof in Odessa sagt, dass sich nicht viele getrauen, ins Land hineinzufahren, denn das ist gefährlich. In Charkiw verteilt der Bischof alle Essvorräte, die er selbst noch hat. In Mariupol es ist auch sehr schwierig – und bald wohl auch in Kiew. Dass die Hilfe an die Menschen herankommt, die wirklich schon in Not sind, ist am schwierigsten. Das tut mir weh, weil es so nötig wäre, da zu helfen – aber es ist kaum möglich, dorthin zu gelangen.

Was bedrückt die Menschen am meisten?

Die Familien sind in grösster innerer Not: Die Mütter möchten aus Sorge um die Kinder wegfahren, wollen aber die Väter nicht verlassen. Diese müssen und wollen im Land bleiben – es ist eine Verpflichtung. Der Schmerz dieser Trennungen ist enorm. Das ist das grösste Dilemma: Ich kann nicht empfehlen, rauszufahren, aber ich kann auch nicht sagen: Bleibt da, weil ich Angst habe um diese Menschen. Es ist die Asymmetrie des Leidens: Wie ich hier aus Ohnmacht leide und sie wegen der akuten Gefahr leiden, das zerreisst, aber nicht nur mich, sondern viele Menschen. Hinzu kommt die Enttäuschung, dass all das Erkämpfte und Erträumte für die Zukunft der Ukraine verloren zu gehen droht – die Freiheit, die Demokratie, die aufkeimende Hoffnung auf ein besseres Leben.

Sie haben die ersten 21 Jahre Ihres Lebens in der Ukraine verbracht. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Heimat denken?

Ein Land des Liedes – bei jeder Gelegenheit wird gesungen und für jede Lebenssituation gibt es ein Lied, melancholisch und verträumt, frisch oder humorvoll mit kritischem Witz. Dann: Ein Land der Gastfreundschaft. Für einen Gast ist immer etwas vorbereitet, ein Wochenende ohne Gast ist kein Wochenende. Die schönen Bräuche für Weihnachten und Ostern, die Speisen und das Fasten. Die Karpaten sind genauso schön wie die Alpen. Und die Steppen, die sind einfach weit, weit, weit, da gibt es nur Weizenfelder und Himmel – deswegen auch diese beiden Farben unserer Flagge, Weizenfeld und Himmel ... Es ist ein verträumtes Land, immer in Sehnsucht nach der Freiheit. 

Eine Freiheit, die es selten gab.

Die Sowjetunion war für uns eine Zeit der Unterdrückung. Man konnte nicht frei reden. Ich durfte nicht in die Kirche gehen als Schüler, und wenn ich trotzdem ging, musste ich Strafe fürchten. Ein Land der Begegnung: katholisch, orthodox, jüdisch, muslimisch – Ost und West. In dieser Begegnung ist auch eine Sehnsucht nach Neuem entstanden: Die Unabhängigkeitsbewegung der Sowjetunion in Lwiw (Lemberg). Von da kam der Impuls, der in die gesamte Sowjetunion als Feuer der Befreiung ausgestrahlt hat. 

Für Präsident Putin ist das eine Gefahr.

Ja, aber er sieht darin eine Nazifizierung. Das ist eine Verdrehung der Geschichte, denn damals war es ja eine Befreiung vom kommunistischen Korsett, das ähnlich war wie das Nazi-Regime.  

Sie kennen Menschen, die an der Front sind. Sind Sie mit ihnen in Kontakt?

Ja, aber man will sie nicht im Einsatz stören. Man sollte nur anrufen, wenn es notwendig ist. Aber was heisst «notwendig»? Ich schicke ab und zu ein SMS und schreibe, dass ich an sie denke und für sie bete. Ich habe von einigen gehört, dass sie die Kraft des Gebetes und der Solidarität spüren, denn sie wissen nicht, woher ihnen die Kraft herkommt, die sie haben.

Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Soldaten wahr?

Die Väter kämpfen für die Zukunft ihrer Kinder. Wir haben vergessen, dass dieser Verteidigungskrieg nicht nur geführt wird, um Putin zu stürzen oder für politische Interessen oder gegen etwas Imaginäres, vor dem man sich fürchtet. Es geht um etwas anderes: Es geht um eine menschenwürdige Zukunft. Für uns ist das einfach ein selbstverständliches Grundrecht. In der Ukraine ist es zurzeit bedroht.