Kirche aktuell

Film Brunngasse 8 Die alte Frau und das Haus

Hildegard E. Keller

Hildegard E. Keller ist Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin. Zehn Jahre lang war sie Professorin am Department of Germanic Studies der Indiana University in Bloomington USA. An der Universität Zürich lehrt sie heute Storytelling.

Hildegard E. Keller
Ein altes Haus in Zürich erzählt vom Zusammenleben zwischen Juden und Christen, von der Migration von Ideen und Menschen. Auf der Suche nach historischer Wahrheit holt Hildegard E. Keller im Film «Brunngasse 8» nicht nur verdrängte Geschichte ans Tageslicht, sondern begegnet auch einer Bewohnerin, die beide Weltkriege erlebt hat.
27. Januar 2022

Ich erzähle Geschichte mit Worten und Bildern und bringe Zeit zum Sprechen. Ich habe eine Nase für Orte, in denen Geschichte haust, und für Figuren, die etwas erlebt haben und davon erzählen können. In der Zürcher Altstadt bin ich fündig geworden: Mein Dokumentarfilm «Brunngasse 8» erzählt von einem Haus und seiner ältesten Bewohnerin.

Zuerst zum Haus: Seit über siebenhundert Jahren wohnen Menschen in der Brunngasse 8. Das Haus, heute im Immobilienportfolio der Stadt Zürich, ist ein Monument, ein Stück geronnene Zeit, in dem sich heute noch rätselhafte Spuren finden: Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert mit winzigen hebräischen Schriftzeichen.

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Brunngasse 8. Wappenfries. Foto: Bloomlight Productions

1996 wurden sie im Treppenhaus und in der Wohnung im ersten Stockwerk entdeckt. Dank dem Scharfsinn der Zürcher Archäologen konnte ein geschichtlicher Moment, der verdrängt worden war, ans Licht kommen. Mein Film erzählt davon.

Silvana Lattmann: ein lebendes Monument

Der Zufall wollte es, dass im Entdeckungsjahr eine Mieterin einzog, die schon damals sehr alt war. «Sono nata nel 1918», sagt Silvana Lattmann im Film. In der Dichterin und Biologin fand die Geschichte des Hauses eine ungewöhnliche Resonanz; die Mieterin, vor deren Augen Restaurateure mit feinen Instrumenten Bilder aus vergangener Zeit freilegten, engagierte sich auch finanziell. Heute lebt Silvana Lattmann nicht mehr an der Brunngasse 8, sondern in Rüschlikon.

Als 103jährige ist sie zu einem lebenden Monument geworden. Sie gehört zur Generation, die beide Weltkriege erlebt hat.

Auch davon erzählt mein Film, denn die alte Frau und das Haus können was erzählen.

Geschichten

Fünf weitere Personen legen vor der Kamera Zeugnis ab, ebenfalls Erfahrungs- und Wissensträger:

  • Der damals verantwortliche Archäologe, Dölf Wild, erzählt, wie die Wandmalereien ins Hier und Jetzt geholt wurden und zu welchen Spekulationen sie Anlass gaben. Er gehört zu den Initianten des «Schauplatz Brunngasse».
  • Daniel Teichman, ein in der Nachbarschaft wohnhafter jüdischer Psychiater und Psychotherapeut, begeistert sich für Familiengeschichte und, allgemeiner, für die Suche nach historischer Wahrheit. Wir fragten ihn, ob die Zeit Wunden zu heilen vermag. Auch dazu äussert er sich im Film.
  • Die Judaistin Ingrid Kaufmann hat sich intensiv mit dem Werk des Rabbi Moses beschäftigt, mit dem einzigen jüdischen Gelehrten aus dem Mittelalter in der Schweiz, der heute international bekannt ist. Rabbi Moses war einer der Söhne von Frau Minne, die den Auftrag zu den Wandmalereien in der Brunngasse 8 gegeben haben könnte.

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Brunngasse 8. Foto: Bloomlight Productions

  • Frau Minne als einflussreiche, initiative und kunstliebende Frau an der Brunngasse 8? Das kann sich Elijahu Tarantul, der Mittelalterhistoriker und Rabbiner, sehr gut vorstellen. Geboren in Charkiv, der zweitgrössten Stadt in der Ukraine, kann er von Talmudgelehrten ebenso interessant erzählen wie von Elefanten, die im mittelalterlichen Zürich höchstens als Wappentiere zu bestaunen waren. Wie Silvana Lattmann gibt auch Tarantul Elemente seiner eigenen Biografie preis.

Es führt ins dunkle Herz des Films, wenn er skizziert, wie die Wanderbewegung seiner Vorfahren mit der Geschichte der Brunngasse 8 zusammenhängt.

 Er bringt somit den sensationellen Fund in der Zürcher Altstadt mit Blick auf ganz Europa zum Sprechen.

  • Der Schriftsteller Raoul Schrott weitet diesen Blick über Europa hinaus und erinnert an den grossen Kontext aller Kultur, nämlich die Migration der Ideen, Erzählungen, Bücher und eben Menschen, von Ost nach West, über den gesamten Mittelmeerraum hinweg. Ohne dieses Wandern, könnte man zusammenfassen, gibt es keine Kultur. Das ist der internationale Bogen, den der Film aufspannt, übrigens auch in praktischer Hinsicht. Einzig Raoul Schrott haben wir im Ausland gefilmt, in der Toscana, alle anderen Interviews sind in Zürich entstanden. Erst bei einem Nachdreh durften wir Raoul Schrott in einer Wohnung in der Zürcher Altstadt filmen.

«Brunngasse 8» hält Erinnerung lebendig

Wir leben mit Geschichten und Geschichte. Es ist schwierig, sich in Menschen früherer Zeiten einzufühlen. Solange wir uns aber darum bemühen und sie in Erinnerung rufen, bleibt ihre Geschichte unter uns lebendig.

Brunngasse 8 Trailer from Bloomlight Productions on Vimeo.

 

Zwei Sätze, die ein Zuschauer nach der Filmpremiere schrieb, haben mich ganz besonders gefreut, denn sie bestätigen: Unsere Arbeit hat sich gelohnt:

«Es gäbe noch unendlich mehr Geschichten, und sie hängen über Zeiten und Orte alle zusammen. Der intime Blick in ein einzelnes Zürcher Altstadthaus wird so zum Beispiel für die Erzählungen der Welt» (Michael Eidenbenz, ZHdK)

Wo bleibt die Frau-Minne-Gasse?

Bald 700 Jahre sind vergangen seit dem Pogrom gegen die Zürcher Juden. Als von den damals Betroffenen erstmals Spuren, eben die Wandmalereien an der Brunngasse 8, zum Vorschein kamen, führte es zu einem Vorstoss im Gemeinderat der Stadt Zürich. Man solle Strassen und insbesondere die Rudolf-Brun-Brücke umbenennen. Daniel Teichman und Dölf Wild erinnern im Film an die damals geführten Diskussionen und ihre Konsequenzen, allerdings gibt es die Rudolf-Brun-Brücke immer noch. Der Film regte jüngst ein neues Postulat im Gemeinderat an. Wir werden sehen. Warum nicht eine Frau-Minne-Gasse? Ich würde so ein Gässchen der Liebe sofort in meine Stadttour aufnehmen.

Hinweis: als Professorin für Literatur an der Universität Zürich engagiert sich Hildegard E. Keller mit ihren Studierenden auch für Storytelling «Brunngasse 8».

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Brunngasse 8 Filmplakat

 

Bis am 1.3.2022 ist der Film Brunngasse8 auf SRF online abrufbar