Kirche aktuell

Rentenreform – wenn es doch nur einfacher wäre!

Rentenreform – wenn es doch nur einfacher wäre!
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
18. September 2017

Am 24. September stimmen wir über zwei Vorlagen ab, die komplex und miteinander verknüpft sind. Es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Sozialethiker Thomas Wallimann sagt, warum er ein Ja in die Urne legt.

«Das ist einfach unglaublich komplex! Jedes Mal, wenn ich jemanden höre, bin ich wieder unsicher, wie ich abstimmen soll.» So äussert sich heute ein Freund am Telefon. In der Tat ist die Abstimmung vom 24. September über die Rentenreform anspruchsvoll! Zum einen muss man zwei Fragen beantworten (Erhöhung Mehrwertsteuer für AHV und Allgemeine Reform), zum andern sind die beiden Vorlagen miteinander verknüpft und sollen sowohl die Renten der AHV als auch die Pensionskasse sichern.

Dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme immer wieder anpassen müssen, sollte eigentlich nicht überraschen. Wir Menschen verändern uns ja auch und so die Zeiten, in denen wir leben. Weil zudem AHV wie auch 2. Säule (Pensionskasse) eng mit der Arbeitswelt, der Arbeitszeit sowie der Lohnhöhe verknüpft sind, haben Veränderungen in der Arbeitswelt grosse Auswirkungen. Ebenso spielt die geschätzte Länge der Bezugsdauer von Pensionen eine wichtige Rolle. Da wir zurzeit durchschnittlich immer noch älter werden und bald sehr viele Leute in Pension gehen (die sog. Babyboomer-Jahrgänge) sind Anpassungen unausweichlich. Dazu gehören das gleiche AHV-Alter für Frau und Mann und die Möglichkeiten des flexiblen Pensionsalters.

Problemkind 2. Säule
Unser Sicherungssystem für das Alter besteht aus drei Säulen: AHV, Pensionskasse und privates Sparen (Säule 3a und b). In der AHV bezahlt die jetzt arbeitende und Geld-verdienende Generation für die jetzt Pensionierten (sog. Umlageverfahren). In der Pensionskasse hingegen spare ich mit meinem jetzt gesparten Geld für meine Pension, wenn ich dann einmal pensioniert sein werde (sog. Kapitaldeckungsverfahren).

In der AHV können wir also schnell und flexibel die Beitragssätze anheben, damit genug Geld für die benötigten Renten zur Verfügung steht. Wir tun das auch, indem ab 2021 dann der Mehrwertsteuersatz und auch die Lohnabzüge erhöht werden.

In der Pensionskasse ist das komplizierter. Hier wird mir ja versprochen, dass mein gespartes Geld in 15, 20 oder auch 30 Jahren einst eine bestimmte Rente abwerfen wird. Dieses Versprechen heisst Umwandlungsatz! Nun ist aber allen klar, dass wir keine Voraussagen über die Rendite von Geldanlagen in Zukunft machen können! Weil nun in den letzten Jahren die Wirtschaft viel weniger Renditen auf die Geldanlagen produziert hat, können die Versprechen von früher nicht eingehalten werden. Darum gibt es in der Reform eine Senkung des Umwandlungssatzes. Die 2. Säule hat also ein «eingebautes» Problem, dass sie mir nämlich etwas verspricht, das sie wirtschaftlich gar nicht garantieren kann.

Weil wir aber alle gerne Versprochenes auch bekommen wollen, gibt es in der Reform viele Anpassungen und Zwischen- und Übergangslösungen. Dazu gehört eben die Erhöhung der AHV um 70 Franken. Dies alles macht die Vorlage zusätzlich kompliziert.

Foto: Christoph Wider

Solidarität ist nicht gratis
Ich sage «ja» zur Reform, weil für mich als christlicher Sozialethiker das Gemeinwohl- und Solidaritätsverständnis zentral sind.
Das Gemeinwohl hat die Gesamtheit im Blick. Dabei ist bewusst, dass es nicht allen gleich gut geht, aber die Unterschiede zwischen den Gewinnerinnen und Verliererinnen nicht übermässig sein dürfen. Das Gemeinwohlverständnis nimmt die Tatsache ernst, dass es keinen Himmel auf Erden gibt, doch es versucht, die Unterschiede zwischen jenen, die Lasten tragen und jenen die profitieren, auszugleichen. Ich meine persönlich, dass dies in der vorliegenden Vorlage nicht schlecht gelöst ist – auch wenn ich mir da und dort auch anderes vorstellen könnte.

Der zweite Grund ist mein Solidaritätsverständnis: Solidarität heisst für einander einstehen – insbesondere für Benachteiligte und Schwache. Solidarität nimmt ernst, dass wir letztlich alle im gleichen Boot sitzen. Solidarität nimmt auch ernst, was das vierte Gebot sagt: Ehre Vater und Mutter. Dies bedeutet nichts anderes, als dass jüngere Generationen für die älteren schauen! Ich habe darum Mühe, wenn so getan wird, dass die Jungen die Bestraften sind, wenn diese Vorlage angenommen wird. Zum einen bezahlen Arbeitende bis 65 in die AHV und Pensionskasse ein, zum andern müsste sonst – wenn diese Argumentation stichhaltig sein soll – von diesen Kreisen schon längst der Vorstoss eingebracht werden, ihrer Elterngeneration – also den Pensionierten – die Pensionen zu kürzen, denn sie haben ja uns dieses System eingebrockt!

Solidarität ist darum nicht gratis zu haben. Aus einem grösseren Verständnis heraus bin ich bereit zu geben. Denn ich vertraue auch den künftigen Generationen, dass sie zu den älteren Generationen Sorge tragen werden.

Ein Test für Grundsätzliches
Hinter den Argumenten verstecken sich für mich immer deutlicher die Grundeinstellungen jener, die sich äussern. Je eigennütziger und egoistischer jemand denkt, desto weniger vermag er der nächsten Generation zu trauen. Denn er unterstellt auch ihr nur eigennütziges Denken und weiss, dass mit Eigennutzenmaximierung kein Sozialstaat zu machen ist. AHV wie Pensionskasse sind Solidarsysteme und da geht es ums Teilen – d.h. wer viel hat, ist stärker gefordert.

Andererseits kann es auch nicht sein, dass keine Einschränkungen erlaubt werden dürfen. Das Pensionskassensystem beruht darauf, dass es nicht einfach immer aufwärts geht. Bestandserhaltung ist darum nicht einfach haltbar. Unser politisches System lebt von Kompromissen und dies heisst auch, dass alle selten ihre Ziele rein und sauber erreichen. Nichts zeigt dies deutlicher als diese Vorlage.

Meine christliche Solidarität sagt mir, dass ich teilen darf und dies mich auch etwas kostet. Ich weiss aber auch, dass eine Gesellschaft, die ihre Generationen (ältere wie jüngere) wertschätzt und ihnen etwas zu-mutet, eine gesündere ist, als jene, die nur auf Eigennutzen baut. Wir machen in der Tat jetzt kleine Schritte, aber wir zeigen auch, dass die Welt nicht in grossen Würfen verändert wird. Dass wir den Mut auch zu Einbussen haben, ist ein Zeichen, dass es uns wirklich um das Gemeinwohl geht.

Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter ethik22

Sozialethiker Dr. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des Instituts für Sozialethik (ethik 22) und Präsident a.i. der Nationalkommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.

Abstimmung vom 24. September 2017: Kriterien aus sozialethischer Sicht