Kirche aktuell

Ergänzung zum Papsttext über Missbrauch

Ergänzung zum Papsttext über Missbrauch
Pfarrer in Winterthur
Hugo Gehring
Hugo Gehring
24. August 2018

Es ist beeindruckend, wie glaubwürdig Papst Franziskus in seinem Text vom 20. August 2018 seine Erschütterung über die unglaublich grosse Zahl von Missbrauchsfällen, an denen katholische Kleriker schuld sind, zum Ausdruck bringt. Ich nehme ihm ab, dass er sich innerlich entschieden auf Seiten der Opfer fühlt und die an ihnen begangenen Taten, die er mehrfach als Gräueltaten bezeichnet, total verabscheut. Kein Zweifel: Auch die langjährige gängige Taktik des amtskirchlichen Vertuschens ist ihm zu tiefst zuwider.

Besonders berührend empfinde ich den Verweis von Franziskus auf das Magnificat, in dem Maria einen Perspektivenwechsel zu Gunsten der Erniedrigten besingt. Das ist gewiss die grundlegende Blickrichtung des Papstes.

Diagnose und Therapie

Doch das gegenwärtige Oberhaupt der katholischen Kirche legt in seinem Text auch eine Diagnose (und Therapie) des massiven klerikalen Fehlverhaltens vor.

Für ihn ist die Ursache des weltweiten Missbrauchsskandals „in einer anormalen Verständnisweise von Autorität in der Kirche“ zu suchen, die er kurz „Klerikalismus“ nennt. Wenn ich diese interessante „Klerikalismus-These“, die doch eine ekklesiogene Wurzel des Problems eingesteht, ein wenig ausdeute, bedeutet sie, dass die sexuelle Ausbeutung der Opfer im Grunde eine Form des perversen Machttriebes der Täter darstellt, die sich sexueller Mittel bedienen, aber eigentlich aus einem „Überlegenheitsrausch“ heraus handeln. Für mich trifft diese Erklärung für einen Teil des schrecklichen Phänomens zu. Was bei den Legionären Christi geschah, was sich in kirchlichen Waisenhäusern, Internaten und anderen autoritären Institutionen zutrug, hat sicher auch mit der brutalen Ausnützung von fundamentalen Abhängigkeitsverhältnissen zu tun. Insofern ist auch das Überwinden eines solchen „Klerikalismus“ – und das Vermeiden von Situationen unmenschlicher Abhängigkeit – ein in meinen Augen ein berechtigter Heilungsansatz.

Päpstliche Diagnose bedarf der Ergänzung

Aber damit ist für mich nicht die ganze Wahrheit aufgedeckt.

Die päpstliche Diagnose des „Klerikalismus“ bedarf einer wesentlichen Ergänzung. Die über Jahrhunderte entwickelte negative Einstellung der katholischen Kirche zur Sexualität halte ich für mindestens genau so verheerend und Missbrauchs-verursachend.

Spätestens seit Augustinus wird in der katholischen Tradition jede Form der Sexualität auf breiter Front verteufelt und höchsten in der Ehe als “Heilmittel gegen die Triebhaftigkeit“ im Sinne des kleinen Übels zugelassen:

  • Darum sind bevorzugt vermeintlich „asexuelle Räume“ in gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften geschaffen worden,
  • darum wird vom Priester durch den Zölibat die kultische Reinheit (d.h. die sexuelle Abstinenz) verlangt,
  • darum ist das 6. Gebot im Beichtstuhl als die repressivste Moralkeule verwendet worden.

Eine solchermassen verdrängte Grunddimension der menschlichen Natur meldet sich umso vehementer in zerstörerischer Form zurück, gerade bei den der Kirche am stärksten Verbundenen, den Klerikern.

Denn auch durch gleichgeschlechtliche Trennung verschwinden die sexuellen Impulse nicht, und eine verhinderte personale Entwicklung der Sexualität fixiert sie im Zustand der Kindlichkeit, was möglicherweise der Hintergrund für pädosexuelles Verhalten bilden könnte.

Ein krankes System pflanz sich fort

Zudem pflanzt sich dieses kranke System fort: Aus Opfern werden häufig später Täter, die sich eigentlich immer noch als Opfer fühlen. Ich selber habe als 10-jähriger 1962 im katholischen 2. Klass-Religions-Unti zur Vorbereitung auf die Beichte den Begriff „Unkeuschheit“ kennen gelernt.

Mir wurde beigebracht, dass alles, was im Bereich des Geschlechtlichen geschieht – inkl. der diesbezüglichen Wünsche – schwere Sünde ist. Eine solche ernst genommene Lehre kann sich wie Gift in der kindlichen Seele auswirken. Darum müsste eine Umkehr des kirchlichen Handelns, die der Papst fordert, auch die Einstellung der katholischen Kirche zur Sexualität umfassen.

Zugegeben: Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Sicht auf die Ehe diesbezüglich gewandelt. Leider merkt man davon jedoch im Katholischen Katechismus von 1993 im Kapitel über das 6. Gebot sehr wenig. Das päpstliche Schreiben „Amoris laetitia“ hingegen weist in die richtige Richtung. Dass es weltweit kirchlich so umstritten ist, lässt ahnen, wie schwer und langwierig sich Veränderungen auf diesem Gebiet durchsetzen. Ich bin überzeugt: Ohne eine entschiedene Revision der katholischen Anthropologie in Bezug auf die Bewertung der Sexualität ist eine Therapie nicht möglich.

Hugo Gehring