Kirche aktuell

Kirche ist immer politisch!

Kirche ist immer politisch!
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
01. Februar 2017

Generalvikar Martin Grichting plädiert dafür, dass die Kirche sich politisch zurückhalten sollte. „Einspruch!“ rufe ich als Sozialethiker und lege noch nach: „Kirche IST politisch. IMMER, auch wenn sie es nicht will.“ Mit dieser Meinung bin ich in guter Gesellschaft. Ich erinnere an die Botschaft von Abt Martin Werlen zum 1. August 2011 – und dies im Namen der Schweizer Bischofskonferenz.

Ausgelöst hat meinen Einspruch der Kommentar des Churer Generalvikars Martin Grichting, betitelt mit „Die Kirche sollte sich politisch zurückhalten“ in der „Schweiz am Sonntag“ vom 29. Januar 2017

Gretchenfrage: Was ist richtig, was ist falsch?

Eidgenössische Abstimmungen bringen es immer wieder ans Tageslicht:

Politik und ihre Entscheide haben nicht nur mit Macht zu tun, sondern immer auch mit Werthaltungen und Annahmen darüber, was gut und richtig ist.

Unser politisches System lebt davon, möglichst viele unterschiedliche Akteure in die Entscheidungsfindung einzubinden. Vernehmlassungen sind das äussere Zeichen dieser Form der Einbindung.

Meinung der Kirche ist gefragt

Schon als Kirchenratspräsident und heute als Mitglied und Präsident ad interim von Justitia et Pax, der bischöflichen Kommission für sozialethische Fragen, habe ich an Vernehmlassungen teilgenommen – auch auf Einladung durch die jeweiligen politischen Behörden.

Politische Behörden wissen genau, dass auch die Meinung der Kirchen als Körperschaften und gesellschaftliche Akteurinnen Wichtiges zum glückenden Zusammenleben in unserer Welt beitragen.

Dass die Kirchen dabei Interessen vertreten, gehört zum politischen Allgemeinwissen. Als Kantonsparlamentarier in Nidwalden mache ich auch die Erfahrung, dass die politisch Engagierten, Parlamentarierinnen wie Regierungsmitglieder und Parteiführende sehr genau wissen, wofür sich die Kirche einsetzt und einzusetzen hat. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass dieser Einsatz auch selber unterstützt wird. „Man“ weiss, dass der christliche Beitrag in dieser Welt zu Gunsten der Armen und Benachteiligten ist! Wenn ich mich einmal nicht dafür einsetze, werde ich mit Regelmässigkeit daran erinnert! – Interessanterweise nicht so sehr von jenen, die meinen Einsatz teilen, sondern von jenen, die ich eigentlich zu kritisieren hätte!

Kirche nimmt Partei für die Benachteiligten

Denn auch hier:

  • „Man“ weiss immer noch, dass der christliche Glaube, das Kirche-sein, zwar keine Parteipolitik betreibt, jedoch parteiisch ist: zu Gunsten der Armen und Benachteiligten, zu Gunsten des Gemeinwohls statt Eigeninteressen.
  • „Man“ weiss auch, dass der christliche Glaube in dieser Welt ist und
  • „man“ weiss auch (theologisch), dass Weihnachten (Inkarnation; Gott kommt auf diese Welt), noch heute bedeutet, dass der christliche Glaube eben auch in und auf dieser Welt sicht- und erfahrbar ist: ganz konkret in der Gestaltung der (auch politischen) Verhältnisse!

Vor diesem Hintergrund kann die Kirche gar nicht anders als politisch sein: sagt sie nichts, dann ist sie auf der Seite der Gewinnerinnen (und Mächtigen), sagt sie etwas, setzt sie sich auch der Kritik aus.

Dabei zu meinen, dass die Komplexität einer Vorlage und der politischen Fragestellung das Kriterium sei, „politisch“ zu sein, greift zu kurz. Fast alle Fragen, die sich bei Abstimmungen stellen, weisen einen hohen Grad an Komplexität aus.

Es ist vielmehr eine Frage der Einschätzung und auch der politischen wie taktischen Klugheit, wo und wie sich die Kirche zu Wort meldet.

Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass „die“ Kirche ja eine sehr vielfältige Angelegenheit ist: Es gibt mehr als die Bischöfe, ihre Kommissionen und die Landeskirchen, zum Beispiel Vereine und Verbände, Interessengemeinschaften und mehr.

Wertediskussion und Orientierungsfragen zulassen

Die Kunst besteht viel mehr darin, möglichst glaubwürdig und eben auch gradlinig als Kirche in dieser Gesellschaft das Wort zu ergreifen.

Noch viel wichtiger aber ist es, dass die Kirchen und ihre Institutionen jenen Raum schaffen, der Werte-Gespräche und Orientierungsfragen zulässt und zu suchen hilft, wozu der christliche Glaube in dieser Welt verpflichtet – angesichts ganz konkreter und eben auch komplexer (Abstimmungs-)Fragen.

Es ist gerade diese Dimension, die in der heutigen politischen Diskussion kaum mehr vorhanden ist, wenn lediglich Ängste angesprochen werden – ob nun jene, dass wir alle im Stau auf kaputten Strassen stecken bleiben, von Ausländerinnen und Ausländern überrannt werden oder dass alle grossen Unternehmen uns den Rücken zukehren, weil sie lediglich wegen der tiefen Steuern hier sind.

Mit ethik22 und den Abstimmungshilfen versuche ich einen solchen Raum für wertorientiertes Nachdenken zu schaffen – ob es gelungen ist, müssen Sie, liebe Leserin, lieber Leser beurteilen!

Das neue Sozialethische Institut heisst ethik22 und bietet Raum für Werte.

In einem kurzen Video stellt Thomas Wallimann-Sasaki das Institut vor: