Kirche aktuell

Gehört der Tod mir?

Gehört der Tod mir?
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
13. Dezember 2016

Die neuesten Zahlen zur Sterbehilfe lassen aufhorchen: Kontinuierlich und sprunghaft steigen die Zahlen. Kürzlich titelte die NZZ „Zunahme der Sterbehilfe: Der Tod gehört mir“.

Ein aufmerksamer Blick in die Medien zeigt, dass der assistierte Suizid immer mehr als „Normalfall“ dargestellt wird. Dabei ist mir jenes Phänomen aufgefallen, das ich bei vielen ethisch brisanten Themen immer wieder beobachte: Einzelfälle werden ausführlich dargestellt. Gleichzeitig werden jedoch Fragen der Gesellschaftsgestaltung im Sinne einer strukturellen Aufgabe vernachlässigt oder sogar ganz ausgeblendet. Gerade jetzt stelle ich das wieder gehäuft fest.

Was ist normatives Arbeiten der Ethik?

Sogenannt „normatives“ Arbeiten in der Ethik geht das Wagnis ein, auf der Basis eines bestimmten Menschenbildes oder Wertbodens zu sagen oder zu fordern, was „richtig“ oder „falsch“ ist.

Jede Ethik, die sich mit konkreten Fragen auseinandersetzt und normativ arbeitet, weiss, dass die konkrete Situation und damit der Einzelfall anders beurteilt wird, als die allgemeine Situation.

Auch individuelle Fragestellungen wie etwa „Darf ich Sterbehilfe beanspruchen?“ sind anders zu beurteilen als die gesellschaftliche, die da lautet: „Ist es gerecht, wenn in einer Gesellschaft Sterbehilfe zum Normalfall wird?“

Es kann durchaus sein, dass individualethisch ein Verhalten legitimiert werden kann, sozialethisch hingegen nicht. Entscheidend ist in diesem Fall das Abwägen der Folgen für die Gesellschaft wie auch für andere Menschen: Ist das Gefälle der negativen Folgen zu gross? Ziehen nur wenige einen Nutzen daraus? Und: Ist die Würde aller respektiert?

Kann christliche Ethik Suizidbeihilfe tolerieren?

Diese Überlegungen führen dazu, dass selbst aus christlicher Ethik die Suizidbeihilfe unter Einbezug der genauen Umstände im Einzelfall toleriert werden kann. Denn: Die den Menschen geschenkte Freiheit kann – und muss – so gedacht werden, dass ein Suizid und das Verlangen von Beihilfe zum Suizid dieser gottgeschenkten Freiheit im Einzelfall nicht zwingend widersprechen muss.

Grosse Vorbehalte gegenüber Sterbehilfe als „Dienstleistung“

Hingegen hat eine christliche Sozialethik sehr grosse Vorbehalte gegenüber einer institutionalisierten und organisierten Sterbehilfe als vom Staat bzw. dessen Institutionen garantierte „Dienstleistung“.

Orientiert am Wohl aller(!) Menschen und insbesondere der Armen, Schwachen und Benachteiligten sowie den Folgen für die Werteordnung einer Gesellschaft ist eine „gesellschaftlich normalisierte“ Hilfe zum Suizid aus christlicher Sicht kein gangbarer Weg.

Staatlich legitimierte Suizidbeihilfe berücksichtigt weder die Würde noch die Freiheit jener Menschen, die in Institutionen tätig sind und sich dem Dienst am Leben und der Lebenserhaltung verpflichtet haben – oder sie setzt jene Menschen unverhältnismässigem Druck aus, denen es schwer fällt, selbstbestimmt Entscheide über ihr Leben zu treffen – sei es, weil sie es nicht können, nie geübt haben oder unter grossem Druck von Umgebung oder Gesellschaft stehen.

Gesundheitskosten und Gerechtigkeit

Der Anstieg der Gesundheitskosten wird heute primär der Alterung der Gesellschaft zugewiesen. „Alt-werden“ bedeutet „finanzielle Belastung“ und „Problem“. Dass dies sehr heikel ist, liegt auf der Hand. Gerechtigkeit – nicht nur christlich begründete – orientiert sich gerade nicht ausschliesslich an denen, die ihre Autonomie voll leben können.

Sie orientiert sich an den Schwachen und Hilflosen. Darum kann ein „Recht auf Sterben“ kein Menschenrecht sein.

Genau das wird jedoch von den Befürwortenden immer wieder als Anspruchsrecht dargestellt – vergleichbar einer „Versicherungsleistung“, die mir beim Eintreffen der „versicherten“ Situation selbstverständlich zusteht.

 Was schützen Rechte?

Rechte sind immer auch Schutzrechte: Sie schützen vor Missbrauch bzw. schützen fragiles und gefährdetes Leben. In diesem Sinne dient das Recht auf Leben, das jene zu schützen, die sich lebensbedrohlichen Kräften ausgeliefert fühlen.

Sterben darf nicht zu einer „Pflicht“ gemacht werden!

All diese Fragestellungen blendet der Verweis auf nackte Zahlen und Statistiken meistens aus. Es ist auch zu einfach, die kritischen Anfragen an die Adresse der Sterbehilfe(organisationen) und Gesellschaft einfach den Kirchen zuzuschreiben.

Am Schluss bleiben die Fragen

Aus ethischer Sicht bleibt für mich auch nach den neusten veröffentlichten Zahlen nicht die Frage, darf ich Sterbehilfe in Anspruch nehmen? – sondern: Wie geht eine Gesellschaft mit Sterbehilfe um, wenn sie die Schwachen schützen, zum Leben Sorge tragen und gleichzeitig den Menschen ein freiheitliches Leben garantieren will?

Es ist eine zu einfache Antwort, Sterbehilfe als Beihilfe zum Suizid einfach so zuzulassen, weil es halt immer mehr tun und weil es für einzelne einfacher ist und ihrem Willen entspricht.

 

Das neue Sozialethische Institut heisst Ethik22  und bietet Raum für Werte. Die Homepage www.ethik22.ch ist im Aufbau begriffen.

In einem kurzen Video stellt Thomas Wallimann-Sasaki das Institut vor: