Dem Tod bei der Arbeit zuschauen
Darf man Menschen eigentlich beim Sterben zusehen? Dieser und anderen Fragen geht die Dokumentarfilmreihe «Sterben live. Film und Lebensende» an der Universität Zürich zwischen dem 13. März und 8. Mai nach. Gezeigt werden fünf Filme über das Sterben und den heutigen Umgang mit dem Lebensende. Und sie werden diskutiert mit den Filmemachern und Fachpersonen aus der Medizin, den Geistes- und Sozialwissenschaften, der Ethik und der Theologie. Einer der Filmemacher ist Edwin Beeler. Er sagt, was es mit seinem Film «Die weisse Arche» auf sich hat, der am 10. April gezeigt wird.
Mein Film «Die weisse Arche» ist der Versuch, mich mit dem Thema «Spiritualität» auseinanderzusetzen.
Ich bin im katholischen, innerschweizerischen Milieu der sechziger Jahre aufgewachsen. Damals herrschte noch ein Klima der zwangsverordneten Religiosität. Später fanden die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils auch ihren Weg in meine Dorfpfarrei. Ein jüngerer Pfarrer kam, und er hielt die Messe nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde, predigte nicht mehr von der Kanzel, sondern fast auf Augenhöhe. Der Schlag- und Zeigstock verschwand aus dem Religionsunterricht.
Nun habe ich ein Alter erreicht, wo das Ende meines Lebens absehbar wird. Die Generation meiner Eltern stirbt aus. Ich gehe immer öfter an Beerdigungen, im letzten Jahr an jene meines Vaters, der über vierzig Jahre lang Arbeiter war. So schnell geht das also – in meinem subjektiven, relativen Zeitempfinden viel schneller, als ich es erst «gestern» noch für möglich gehalten hätte. «Gestern»: vor zwanzig, dreissig oder vierzig Jahren erst. Die Zeit verfliegt so schnell wie ein Windhauch.
Vielleicht ist der Tod, so gewiss er ist, nur ein Tor zu etwas anderem.
Vielleicht ist der Mensch nicht bloss ein biochemisches, hirngesteuertes Maschinenwesen. Der Weg und die Erkenntnis anderer Menschen lassen mich hoffen, dass da noch eine andere Wirklichkeit sein mag, etwas Geistiges, Transzendentes. Die Suche danach kann auch in esoterische Gefilde entgleiten. Doch darum geht es mir nicht.
Für mich geht es um die Frage, welchen Sinn die eigene Existenz haben mag. Dabei kann es ja nicht nur um das Materielle gehen. Man kommt auf die Welt, geht zur Schule, sozialisiert sich, lernt einen Beruf und produziert etwas, was andere schliesslich wieder konsumieren und zahlen. Dadurch kann man ebenfalls konsumieren, was wiederum andere produziert haben.
Am Schluss kommt die AHV und die Holzkiste und das war’s dann. Das kann aber irgendwie nicht alles sein.
Grit Lemke, seinerzeit Programmverantwortliche des Leipziger Dokumentar- und Animationsfilmfestivals, hat über meinen Film «Arme Seelen» geschrieben, dass er seine Erzählungen gegen die im Max Weberschen Sinne « entzauberte Welt » verteidige. Es handle « sich um etwas, das der Westler in allerlei esoterischem Firlefanz verzweifelt sucht: die tief in einer Landschaft, ihrer Sprache und den Menschen verwurzelte Spiritualität, die in einem ganzheitlichen Verständnis vom Leben und Sterben aufgehoben ist. Man kann sie nicht kaufen».
Diesen «Zauber», den auch die repressive Seite der patriarchalisch geprägten Kirche mit ihrer Angstmacherei nicht zunichte machen konnte, habe ich in meiner Kindheit noch ein bisschen mitbekommen: ich erinnere mich an barocke Sinnlichkeit und Bilderwelten des katholischen Milieus, den Duft der Frühlingswiese und blühenden Kirschbäume auf dem Weg in die Maiandacht, an die Wallfahrten nach Einsiedeln zur schwarzen Madonna, die Mentoren meiner Mittelschulzeit (in humanistischer Bildung, aufgeklärter Philosophie und befreiender Theologie versierte Patres, die meine persönliche Entwicklung im Bildungsbereich aktiv gefördert haben), das Atmosphärische zu Hause bei meinen beiden Grossmüttern (Heiligenbilder und Kruzifix mit leidender Christus-Figur in der Stube, regelmässiger Kirchen- und Friedhofsbesuch, beten für die Armen Seelen, Andenken an die Verstorbenen).
Filmemachen als Autor heisst für mich Erinnerungsarbeit, Erkenntnissuche, ethnographische Feldforschung, Auseinandersetzung mit kulturellen und persönlichen Identitäten.
Und dies auf möglichst unterhaltsame, spannende Art: mit dem Erzählen und Gestalten von authentischen Geschichten. Das Thema «Spiritualität» und «Todesfurcht» ist nicht rational fass- und erklärbar wie beispielsweise ein physikalisches Gesetz oder ein mechanisches Konstrukt. Auch im Leben bleiben viele grundsätzliche Fragen ohne endgültige Antwort. Viele Themen und Vorgänge sollte man nicht zerreden. Sonst verlieren sie ihren Zauber.
Ist überhaupt filmbar, was nicht sichtbar ist?
Mich ziehen Geheimnisse an, das Verborgene. Mich reizen Fragment und Ausschnitt, Blicke hinüber in Räume, die keine Kamera betreten oder kein Objektiv erfassen kann. Jean Cocteau sagte einst, dass man durch den Film «dem Tod bei der Arbeit zuschauen kann». Während des Filmemachens, gerade auch an der «weissen Arche», war mir teils nicht bewusst, worauf ich mich da überhaupt einlassen würde. Alles hat sich während des langen Arbeitsprozesses ergeben: Ich habe den Film einfach gemacht, mich auf die jeweilige Situation eingestellt, das Vertrauen der Mitwirkenden gesucht und bin Teil der Topographie geworden. Die magischen Momente beim Filmemachen lassen sich nicht vorausplanen. Sie stellen sich ein – oder auch nicht.
Deshalb freut es mich sehr, dass «Die weisse Arche» im Rahmen der Filmreihe «Sterben live. Film und Lebensende» an der Universität Zürich gezeigt und von Akteuren aus Literaturwissenschaft und Spiritual Care begleitet wird. Das zeigt, dass sich die Filmarbeit gelohnt hat.
Edwin Beeler (59), Schweizer Filmregisseur, Autorenproduzent und Kameramann, ist in Rothenturm geboren und wohnt in Emmen (LU) . Beeler erhielt 2017 für seinen Film «Die weisse Arche» den Innerschweizer Filmpreis der Albert Koechlin Stiftung sowie den Inner-schweizer Kulturpreis für sein filmisches Schaffen insgesamt.
Einstiegsbild: Aus dem Film «Die weisse Arche»: Hahnen, Engelberg
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