Kirche aktuell

Zur Tourismus-Tagung der Theologischen Hochschule Chur Reisen, um zu leben, oder leben, um zu reisen?

Vikar in St. Peter und Paul Zürich, Synodalrat mit Ressort Migrantenseelsorge
Martin Stewen
Martin Stewen
Am 5. und 6. Juni trafen sich in der Paulus Akademie internationale Experten zur Diskussion über das Verhältnis von Kirche zum Tourismus. Eingeladen hatte die Theologische Hochschule Chur. Mit dabei auch Martin Stewen, Weltreisender und Priester in der Pfarrei Peter und Paul, Zürich.
30. Juni 2025

Seit ein paar Jahren fahre ich immer mal wieder als Seelsorger an Bord eines Kreuzfahrtschiffes über die Meere dieser Welt. Es ist eine wunderbare Alternative zum pastoralen Dienst an Land in meiner Stadtpfarrei. Einer der markantesten Unterschiede: Selbst bei noch so heftigen Unwettern schwanken daheim der Altar, mein Schreibtisch und mein Bett nicht – an Bord braucht es dafür noch nicht einmal ungünstige Witterungen.  Auch sonst ist vieles anders.  Die Menschen in meiner Pfarrei gehören entweder in bestimmte Gruppierungen und Kreise hinein oder sie identifizieren sich mit einem oder mehreren unserer wöchentlichen Gottesdienste und nehmen daran teil. Mich als Seelsorger treffen die Menschen in der Kirche, bei Veranstaltungen oder in meinem Büro im Pfarrhaus. Hier und da auch mal in der Migros oder sonst irgendwo privat unterwegs.

Es sind nicht nur die Wellen

Das ist auf einem Kreuzfahrtschiff anders. Zunächst einmal sind viele Gäste der Reise überrascht, wenn sich im Unterhaltungsprogramm an Bord an einem der ersten Abende ein Seelsorger vorstellt. Leute von der Kirche hier? Ja - sogar im Umfeld des «Blicks» weiss man: «Kirche findet da statt, wo die Menschen sind.» (Werner de Schepper, ehemaliger Blick-Chefredaktor). Mich als Bordseelsorger trifft man aber nicht in meinem Büro an (das es an Bord nicht gibt), sondern bei einer Mahlzeit im Restaurant, bei einem der etlichen Empfänge, im Gym – oder als Tour-Guide bei einem Landausflug. Und da gilt: ansprechen oder sich ansprechen lassen. Konfessionelle, sogar Religionsgrenzen werden hier durchlässiger, religiöse Berührungsängste schwinden.

Zeit für Spirituelles

An Bord liegt die Gottesdienstbesucherzahl durchaus mal bei fünfzehn Prozent (aller mitreisenden Gäste). Auf den Kreuzfahrtschiffen, die für deutsche Firmen fahren, sucht man vergeblich nach einer Kapelle. Für die Gottesdienste wird kurzerhand eine Lounge umgebaut – wo am Abend zuvor noch ausgelassen gefeiert wurde, herrscht dann besinnliche Stille. Der Bordpianist, der sonst zum Tanz aufspielt, stimmt jetzt geistliche Lieder an. Orte von Gesprächen über das eigene Leben, Gott und die Welt sind an Deck, an der Reling, am Pool, auf dem Gang, beim Apéro. So niederschwellig wie es nur irgendwie geht. «Und da kommen wirklich Leute, um zu reden?», werde ich immer wieder sehr überrascht gefragt. Ja, sie kommen. Weil mit der Sonne, die am fernen Horizont untergeht, oder der Delfin-Familie, die um das Schiff herum spielt, auch die Themen des Lebens aufploppen, die daheim im Alltag untergegangen sind oder erfolgreich schubladisiert wurden.

Es braucht ein Konzept

Als Seelsorger fahre ich aber nicht nur zur See und gehe dort dem Tun nach, das ich sonst an Land betreibe. Als Theologe frage ich mich auch, was die wissenschaftliche Reflexion zu diesem Tun ergibt und ob sich irgendeine Möglichkeit der Konzeptualisierung erkennen lässt. Zuerst gilt auch in der Bordseelsorge die Goldene Regel der Pastoral: «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände» (II. Vatikanum, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes).  Trauer und Angst – in den Ferien? Ja! Der Luzerner Historiker Valentin Groebner schreibt: «Ferien sind Verzweiflung am Alltag, als Belohnung verpackt.» Machen wir uns nichts vor.

Religion, Kultur und Tourismus

Christian Cebulj, Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Chur, und Anna-Lena Jahn, Doktorandin bei Cebulj, gehen seit Längerem in einem Forschungsprojekt der Frage nach, wo Schnittstellen zwischen Religion, Kultur und Tourismus liegen. Sie sind nicht die ersten und nicht die einzigen, die sich hier engagieren. Die Internationale Forschungstagung «Touristifizierung der Religion oder Spiritualisierung des Tourismus?», die anfangs Juni in der Zürcher Paulus-Akademie stattfand, hat Forschende aus Europa auf einem Podium zusammengeführt und in einen interessanten Austausch zu diesen Themen gebracht. Als Touristinnen und Touristen sind wir an dieser Fragestellung viel näher dran, als man gemeinhin bewusst feststellen mag. Touristische Recodierungen erleben wir schon lange: Da sorgt man sich nicht mehr nur um seine Gesundheit, sondern bucht gleich Ferien in therapeutischen Kontexten; da belegt man nicht mehr einen Sprachkurs an der Volkshochschule, sondern verbringt gerade den mehrwöchigen Französischkurs in der Bretagne.  Andere Beispiele lassen sich hinzufügen.

Kommt ein bordseelsorgerliches Pastoralkonzept?

An der Tagung war leicht zu erkennen: Tourismus und (christliche) Religion haben einander viel zu bieten und tun das auch schon. Die derzeitige Forschung befindet sich auf dem Stand der Wahrnehmung. Nun geht es darum, Synergien auszumachen und diese zu gestalten. Die Diskussion befindet sich auf hoher theologischer Flughöhe. Ich freue mich schon darauf, wenn sie «die Freuden und Hoffnungen, Trauer und Ängste» der Menschen einholt und das erste Pastoralkonzept für Bordseelsorge auf dem Tisch liegt.

Weil doch Reisen auch Leben ist.

Foto: Martin Stewen