Winterthurer Sonnenstrahl wärmt Flüchtlinge in Kroatien
Flüchtlingshilfe handfest: Mit einem Transporter fuhr Diakon Zeljko Calusic an die kroatisch-serbische Grenze. Dorthin, wo die Flüchtlinge aus Syrien EU-Boden betreten. So wurde aus einer Sammelaktion der Pfarrei St. Laurentius Winterthur zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit ein eindrückliches und nachhaltiges Unterfangen, reich an Erlebnissen und Erfahrungen. Zeljko Calusic berichtet darüber.
Ein Zeichen der Hoffnung setzen
Was gerade auf unserer Welt passiert, ist eine Katastrophe biblischen Ausmasses. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht wie jetzt.
Die Verzweiflung der Menschen ist übergross. Sie nehmen als letzte Chance die ungewisse und lebensgefährliche Reise nach Europa auf sich. Mit unserer Aktion zu Beginn des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit konnten wir die gewaltige Not ein bisschen lindern.
An drei Tagen, während nur sechs Stunden, haben wir weit über eine Tonne warme Kleider, Schuhe und Decken von sehr guter Qualität gesammelt. Herzlichen Dank an alle edlen Spender und die freiwilligen Helferinnen und Helfer!
Die Aktion weitet sich aus
Ursprünglich wollte ich mit meinem Minivan fahren. Das war angesichts des Umfangs der gesammelten Güter nicht mehr möglich, und ich musste einen Transporter mieten. Die Mietauto AG Winterthur hat die Hilfslieferung mit einem grosszügigen Rabatt von Fr. 600.- unterstützt.
Nebst Kleidern habe ich auch Geld erhalten: € 10 080.– und CHF 3045.-. Ein grosses Dankeschön geht auch an die Mitarbeiter von S. Oliver Wallisellen, die von der Aktion gehört und CHF 1600.– gesammelt haben.
Ein ganz besonderer Dank gilt einem unbekannten Spender aus unserer Pfarrei, der mir in einer Tasche mit Kleidern auch einen Umschlag mit €10 000 übergegeben hat. Der Begleitbrief war nicht unterschrieben, sodass ich gar nicht weiss, wer er war.
Im Brief schreibt er:
«Geschätzter Herr Calusic, auf verschiedenen Wegen wandern wir als christliche Brüder und Schwester durch die Advents- und Weihnachtszeit. Im Pfarrblatt erwähnen Sie das Heilige Jahr der Barmherzigkeit und den Weg zu den Menschen an der EU-Grenze zu Serbien, den Sie demnächst gehen werden. Der Himmel anvertraut Ihnen notleidende Menschen auf dem Weg. Um die Not zu lindern, anvertrauen wir Ihnen die Spenden. Möge Sie der Geist der Liebe begleiten, wenn Sie dem Leben von Angesicht zu Angesicht begegnen. Alles Gute!»
Was für ein schöner Brief! Dankeschön!
Abfahrt: 27. Dezember 2015
Seitdem Ungarn einen Zaun entlang der Grenze zu Serbien erbaut hat, ist die Route über Kroatien der einzige Weg nach Europa. Momentan kommen viereinhalb bis sieben Tausend Flüchtlinge täglich. Im Sommer sind Flüchtlinge noch zu Fuss über die Grenze in Sid (siehe Karte) gelaufen. Das ist nicht mehr möglich. Heute wartet die kroatische Polizei an der Grenze und steckt die Flüchtlinge in die Sonderzüge, die nach Slavonski Brod fahren. Da gibt es ein Camp für etwa 12 000 Flüchtlinge.
Aus diesem Grund fuhren mein Bruder und ich direkt nach Slavonski Brod, einer Stadt mit knapp 60 000 Einwohnern und eine Stunde Zugfahrt von der serbischen Grenze entfernt. Wir kamen um punkt 8 Uhr an.
Ein zäher Nebel und die kroatische Polizei empfingen uns im Camp. Das Fahrzeug wurde komplett durchsucht, selbst von unten wurde mit Spiegeln der Unterboden des Transporters kontrolliert.
Hätte ich unser Kommen zwei Wochen davor beim Roten Kreuz nicht angemeldet, wäre die ganze Reise umsonst gewesen, denn Zivilsten haben keinen Zutritt ins Camp, sondern nur von den Hilfswerken registrierte und angemeldete Helfer und Spender.
Die Mitarbeiter des kroatischen Roten Kreuzes im Camp nahmen unsere Kleiderspende entgegen und bestätigten den Empfang .
Das Rote Kreuz koordiniert im Auftrag des Staates den Einsatz aller Hilfswerke mit etwa 300 Freiwilligen. Sie sind auch für die medizinische Versorgung zuständig. Weil das vom Staat finanziert wird, bot ich erst gar nicht an, Medikamente zu kaufen.
Mit der Währung Kuna kauft sichs günstiger ein
In Kroatien wechselte ich das Bargeld in die kroatische Währung Kuna. Obwohl Kroatien in der EU ist, kann man immer noch in Kuna bezahlen und kauft damit günstiger ein. Schlussendlich hatte ich 97‘788 Kuna und damit eine volle Tasche Geld bei mir.
Als erstes kaufte ich Lebensmittel für 7 495,40 Kuna (ca. 985 Euro): Tee, Schokolade, Brot, Brotaufstrich, Konserven…
Dringender Bedarf an Schuhen
Was es aber am meisten und ganz dringend brauchte, waren warme Schuhe.
Schuhe haben bei allen Hilfswerken gefehlt. Dabei sind Flüchtlinge zum Teil mit kaputten Schuhen, nur mit Flip-Flops oder sogar nur mit Socken angekommen.
Also kaufte ich vom Rest des Geldes 596 Paar Schuhe für 90 007,10 Kuna (€ 11 828). Dabei konnte ich einen Rabatt von 33 % rausschlagen.
Der Laden wurde für den Einkauf drei Stunden lang geschlossen. Etwa 20 Paar Schuhe mussten wir schliesslich auf den Sitzen transportieren, weil es hinten im Transporter keinen Platz mehr gab.
Mein Bruder und ich waren im Einsatz für die kroatische Caritas. Wir bekamen von ihnen einen Ausweis umgehängt. Trotzdem mussten wir jeden Tag durch den Metalldetektor laufen und wurden durchsucht.
Die Schichten dauerten jeweils zwölf Stunden von 6-18 Uhr oder 18-6 Uhr, weil die Züge wie z.B. in der Silvesternacht oft sehr spät ankamen.
Mit den Mitarbeitern der Caritas haben wir die Schuhe sortiert, damit wir sie besser verteilen können. Jedes Paar Schuhe wurde ganz genau notiert.
Die Leiterin von Caritas im Camp (ganz links) meldete wie jede andere Spende auch diese bei der Zentrale der Caritas in Osijek an. So erfuhr auch der dortige Bischof von unserer Aktion. Er meldete sich telefonisch bei mir, bedankte sich und schickt auch der Pfarrei St. Laurentius seinen bischöflichen Segen. Inzwischen ist auch eine Dankesurkunde wir für die Pfarrei St. Laurentius eingetroffen.
Das Camp
Das Camp besteht aus sechs beheizten Zelt-Komplexen, die insgesamt etwa 12 000 Flüchtlinge aufnehmen können. Allerdings wollen alle weiter nach Deutschland, Norwegen, Schweden…
Die Flüchtlinge werden in Kroatien nur registriert, von den Hilfswerken versorgt und fahren mit denselben Zügen nach etwa sechs Stunden zur slowenischen Grenze weiter. Nur die Kranken und ihre Familien bleiben, bis sie in der Lage sind, ihre Reise fortzusetzen. Von den 600 000 Flüchtlinge, die seit dem Sommer durch das Camp gegangen sind, haben nur vier Asyl im Camp beantragt.
Im Camp fehlt es an nichts: Gebetsräume für Moslems, die Heilige Messe für Christen, separate Container des Roten Kreuzes für Familien der Kranken, Duschen, Toiletten, Ladestationen für Natel, eine Leinwand mit Informationen auf Arabisch…
Rezept für 100 Liter Tee
Täglich trafen 3 bis 4 Züge ein. Eine halbe Stunde vor der Ankunft des Zuges wurden wir Helfer informiert. Dann musste es schnell gehen.
Zuerst kochten wir Tee – bei der Kälte sicherlich der richtige Willkommensdrink nach folgendem Rezept
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100 Liter Wasser
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300 Beutel Tee
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5 Kilogramm Zucker
Die Ankunft der Flüchtlinge
Nach der Ankunft mussten sich die Flüchtlinge zuerst zur Registrierung begeben, bevor wir sie verpflegen und mit dem Nötigsten ausrüsten konnten.
Wir gaben ihnen, was wir hatten:
- Tee
- Handschuhe
- Schuhe
- Jacken
- Schokolade für die Kinder
- Lunchpakete…
Diese syrische Familie wollte den Tee bezahlen. Ich lehnte natürlich ab, fragte aber, ob sie sich mit mir fotografieren lassen würden, wozu sie gerne zustimmten.
Danach erzählten sie mir vom Krieg und der gefährlichen Flucht. Sie hatten alles verkauft, um die Reise zu bezahlen. Wenn sie eines Tages zurück müssen, haben sie keinen Ort mehr, wo sie hingehen könnten. Jetzt waren sie einfach glücklich, dass sie lebendig das sichere Europa erreicht hatten.
Sehr betroffen machte mich als Familienvater die unglaublich grosse Anzahl kleiner Kinder unter den Flüchtlingen. Immer wieder musste ich mit Tränen kämpfen, wenn ich müde, erschöpfte, kranke und unterkühlte Kinder sah. Das Elend ist wirklich gross! Dieses Elend aus nächster Nähe zu erleben, war sehr hart.
Bei der Ankunft am Montagmorgen empfing uns der Nebel. Bei der Abfahrt am Samstagmorgen, 2. Januar, verabschiedete uns die Sonne. Hoffentlich lichtet sich bald auch der «Nebel» über den Flüchtlingen.
Auf jedem Fall haben wir mit der Aktion ein bisschen Licht ins Leben der Flüchtlinge gebracht und Weihnachten wirklich geschehen lassen. So lange es Menschen gibt wie Sie, die diesen Hilfskonvoi ermöglicht haben, gibt es Hoffnung für unsere Welt.
«Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» sagt Jesus. (Matthäus 25,40)
So vergelte der Herr Ihr Tun und Ihre Barmherzigkeit mit reichem Segen und grosser Freude!
Worte reichen nicht aus, um Ihnen meine Dankbarkeit auszudrücken. Trotzdem: Danke, danke, danke
Zeljko Calusic, Diakon
Mit grossem Interesse habe ich den Bericht vom Diakon Calusic gelesen. Ich bin vor kurzem aus Lesbos zurückgekommen, wo ich in der Flüchtlingshilfe tätig war und möchte diese so wertvolle intensive Erfahrung mit anderen Menschen teilen. Hier also mein Bericht "Socks, hats and gloves needed - Lesbos, wie ich es erlebte." Ich hielt es einfach nicht mehr aus, zuhause in der warmen Stube auf dem bequemen Sofa zu sitzen und am Fernsehen oder in der Zeitung die schlimmen Bilder zu sehen, über das was sich tagtäglich zuerst in Lampedusa, später in Lesbos ereignet.
Als ich dann noch im Landboten (der lokalen Zeitung von Winterthur) einen Bericht sah, in welchem ein Schweizer erzählte, was er nach seinen Ferien in Griechenland aus eigener Initiative und mit seiner Familie letzten September auf die Beine stellte, konnte ich nicht mehr zögern. Ich schrieb ihm einfach eine Mail. Mein Leben lang bewunderte ich – und beneidete – Menschen, die irgendwohin reisen, die Not sehen und selber etwas unternehmen um diese Not ein bisschen zu lindern – dies konnte ich trotz meinen vielen Reisen nie. Und am Heilig Abend rief mich Michael Raeber an. (Er ist es, der die Hilfsorganisation „Schwizerchrüz“ aus dem nichts gegründet hat und jetzt noch führt). So buchte ich einfach ein Flugticket nach Mytilini (ich fand im Atlas, dass die Hauptstadt von Lesbos so heisst) und ein paar Tage später flog ich ab, allein, ohne genau zu wissen was mich erwartete. Im Gepäck warme Kleider und kleine Spielzeuge für die Kinder dort.
So begann eine der intensivsten, erfüllendsten und ja, schönsten Zeit meiner letzten Jahre.
Lesbos ist die griechische Insel, die ganz nah an der türkischen Grenze liegt.Schöne Küstenlandschaften, grüne Wälder, Bergstrassen, malerische Dörfer mit pittoresken Tavernen, perfekt um Ferien zu machen. Was aber Hunderte von Menschen aus aller Welt heute nach Lesbos bringt, sind nicht Ferienpläne. Von überall kommen sie her, die Menschen die helfen. Ich traf vor allem Schweizer, Deutsche, Spanier, Norweger, Amerikaner, sogar Australier, die da sein wollen wo andere Menschen ankommen, die Schreckliches erlebt haben und auf der Flucht erleben, weil sie (von noch schrecklicheren Ereignissen), vor Gewalt, vor Krieg, vor der IS, vor dem Tod flüchten. Nicht viel ist das, was man machen kann, aber ohne diese spontane, wenn auch oft nicht professionelle Hilfe, wäre das Leiden dieser Flüchtlinge noch grösser. Die grossen Hilfswerke bewegen sich sehr langsam, bürokratisch, haben sich an viele Regeln zu halten! Ich merkte bald, was ich wollte, war diesen Menschen wenigstens bei ihrer Ankunft in Europa das Gefühl zu geben, sie seien willkommen, jemand da ist, wenn sie nach der gefährlichen Überfahrt wieder Land unter die Füsse bekamen. Bald genug würden sie merken, dass sie nicht überall willkommen sind, sie fast niemand will, sich manche sogar vor ihnen fürchten, sie hinter vergitterten Zwischenlager unterbringen, dass Länder Zäune bauen, täglich ihre Grenzen schliessen. Es waren nur kleine Gesten, ein Lächeln, eine Umarmung wenn jemand vor Angst und Anspannung plötzlich in Tränen ausbrach, ein Täfeli Schoggi ins Müüli eines Kindes. Dank der vielen kleinen privaten Organisationen bekommen aber die ankommenden Menschen erste Hilfe auf dem „shore“ (wenn ich Strand sage, würde ich an Sandstrände denken, in Lesbos sind aber die Strände die ich gesehen habe nur voller Geröll). Was ich konkret machte? Ich verbrachte die ersten zwei Wochen im Kleiderlager von „Schwizerchrüz“ (dort nennen wir uns Swiss Cross, versteht jeder), packte mit anderen zusammen Berge von Kartons und komprimierten Säcken mit Hilfsgütern aus der Schweiz aus, vor allem Kleider und Schuhe. Dann hiess es jedes Stück sortieren, und in unsere bereit stehenden Boxen einpacken. Was fehlte kauften wir mit Spenden aus der Schweiz ein (oder manchmal aus unserem Sack): Unterhosen, Socken, warme Mützen, Zahnbürsten, Zahnpasta, einfach was man braucht wenn man mit nichts ankommt ausser dem, was man vielleicht in einem Rucksäckchen hat mitnehmen können (und nicht verloren hat oder ganz nass von der Überfahrt ist). All dieses Material wird von den Organisationen so wie unsere an Flüchtlingscamps geliefert (in einem Chat melden sich die verschiedenen Camps und fragen nach, was wir liefern können). In diesen Camps bleiben die Flüchtlinge bis sie registriert werden und nach Athen weiterfahren. Um der türkischen Polizei zu entkommen, versuchen die Schlepper so viele Menschen wie nur möglich auf Schlauchbooten zu verfrachten und sie nachts übers Meer zu schicken. Einem der Insassen wird das Steuern anvertraut (dafür muss er etwas weniger bezahlen als die verlangten 1000 oder mehr Euro). In früheren Monaten kamen die Boote im Norden der Insel an (darum ist der Sitz von Swiss Cross in Molyvos, auch Mitimna genannt, wie der alte griechische Name war). Seitdem aber die türkische Polizei strengere Kontrollen durchführt und Leute, die zu fliehen versuchen auch verhaftet, lassen die Schlepper diese mit schlechten Motoren und manchmal mit ungenügend Benzin ausgestatten Boote für noch teureres Geld an andere Orte ins Wasser. Mitgegeben werden lächerlich kleine Paddel aus Sperrholz, die vielleicht für eine Luftmatratze ok wären! Somit wird die Überfahrt noch riskanter und länger – oft viel länger. Bei guten Verhältnissen brauchen die Boote etwa 2 Stunden, sonst bis 7 – 8 Stunden müssen die Menschen ausharren und bangen. Als ich meinen Respekt vor einem Einsatz in der Nacht überwand, bat ich mit der zweiten Nachtschicht mitgehen zu dürfen, die um 4 Uhr beginnt. Die ersten von uns gehen um Mitternacht oder 1 Uhr los, ausgestattet mit grossen Scheinwerfern um die Strände zu beleuchten. Diese Lichter dürfen aber nicht aufs Meer gerichtet werden, sonst hiesse es, die „volunteers“ (die als „illegal“ gelten) treiben „Menschenhandel“ - sind Menschenschmuggler und können verhaftet werden. Sobald man per Handy informiert wird, dass ein oder mehrere Boote auf dem Weg sind, macht man die Lichter an und – wenn die Zeit dafür reicht, die Boxen mit den Kleidern bereit. Plötzlich tauchen in der Dunkelheit kleine Lichter an (einige auf dem Boote haben Handys dabei), die Silhouetten der dicht aneinander gedrängten Menschen werden klarer, die Rettungsschwimmer in ihren Tauchanzügen steigen ins Wasser und die Boote werden ans Land gezogen! Dann kommt Hektik auf! Den Männern und Frauen hilft man aussteigen, Babies und Kindern werden in den Arm genommen und dem oder der nächsten in der Reihe weitergereicht, die winzigen Schwimmwesten ausgezogen, die Mutter wird gesucht. Ergreifende Szenen, Familienmitglieder suchen sich, da kniet ein Junge hin und küsst die Erde, erlöst umarmen sich Männer, eine alte Frau lässt sich auf den Boden fallen, eine hochschwangere Frau fällt in Ohnmacht. Für uns Helfer geht es los: in welcher Verfassung sind die Menschen? Sind sie trocken, sind sie nass, kalt haben sowieso alle. Verletzte, erschöpfte Menschen die dringend Hilfe brauchen, werden zu einem (meistens) präsenten Arzt gebracht – die anderen bekommen Socken, Schuhe oder was sie einfach brauchen (wenn die Socken und Schuhe ausgegangen sind, werden die Füsse mit Schutzfolie eingepackt und wieder in die nassen Schuhen gesteckt, wir nannten das „baked potato“). Wenn der Wind weht, und das ist oft der Fall, werden die Menschen in Decken oder in Schutzfolien gehüllt. Bei meinem ersten Einsatz nahm ich einfach eine grosse Ikea-Tasche mit, schaute um, sah triefendnasse Köpfe, also warme Mütze drauf, traurig schauende stille Kinder – Reiheli Schoggi her, nackte Füsse, frierende Hände, Socken und Handschuhe verteilt. Noch nie habe ich so stark zitternde Kinder gesehen. Kein Kind klagte, sie schauten nur ernst drein, höchstens Babies weinten als man ihnen in der Kälte im dazu provisorisch aufgestellten Zelt Windeln wechselte.
Die Menschen waren nicht mehr „Flüchtlinge“. Es waren einfach einzelne Personen, die dich anschauten und extrem dankbar waren für all das was sie bekamen (nahmen nicht 2 Paar Socken an, eines genüge!) „Shokran“ hiess es ständig, sehr oft „Thank you“ oder „Merci“ - sogar den Kindern hatten die Eltern beigebracht auf Englisch oder sogar Französisch Danke zu sagen! Es war so ergreifend! Gepflegte, höfliche Menschen. schöne Frauen und Kinder mit dunklen grossen Augen! (Einmal sah ich ein etwa 2-jähriges Mädchen, sie sah so ähnlich aus wie meine gleichaltrige Enkelin – es fuhr mich durch Mark und Bein und ich stellte mir vor, wenn es jetzt meine Tochter wäre, die mit ihren zwei Kindern auf der Flucht wäre. Uns bleibt all das erspart, nur weil wir das unverdiente Privileg haben in der Schweiz geboren zu sein. Die anderen haben einfach den falschen Pass!
Und sie waren in Not, hatten alles verlassen, alles geopfert um in Sicherheit leben zu können, hatten so furchtbare Tage hinter sich, hatten so viel Mühe, so viel Leiden, so viele Demütigungen erlitten, und sagten wegen einem Paar Socken ständig Danke! Ein Mann wollte einfach nicht in den bereitstehenden Bus steigen, der die Leute ins Flüchtlingslager brachte. Immer wieder kam er raus und sagte „You are so marvellous persons!“ Und eine kleine Gruppe Jungs fragte UNS „how are you?“! Manchmal reichte die Zeit um ein paar Sätze zu wechseln, viele sprachen Englisch, erzählten wie lang sie unterwegs waren, wie die Überfahrt war, wie sie von den Wellen und dem Wind immer wieder drohten zu kentern, abgetrieben zu werden. In einer Nacht sass ich mit einem Grüppchen Volunteers am Strand, wir warteten, hatten ein Feuer mit Schwemmholz angezündet, jemand hatte Kekse, es kam uns fast vor wie ein fröhliches Lagerfeuer. Dann hörten wir, dass ganz nahe an uns ein Boot gekentert war, 15 Menschen seien im Wasser! Später hiess es 13 wurden gerettet, 2 vermisst. Am nächsten morgen erfuhren wir, dass in dieser Nacht bei Lesbos 33 Menschen ertrunken waren, 5 Kinderleichen seien an den Strand gespült worden. Und ich fragte mich: wie verzweifelt mussten sie sein, um ihr Zuhause, ihre Heimat zu verlassen, sich auf den Weg ins Ungewisse, in die Fremde zu begehen, Kälte, Hunger und Durst zu leiden, das Risiko einer gefährlichen Überfahrt auf sich zu nehmen, mit ihren Babies, mit ihren Kindern, manchmal mit der alten Mutter ... und die Eltern, deren Kinder unter ihren Augen ertrunken waren? .. wie würden sie weiterleben können? Vielleicht auch gepeinigt von Schuldgefühlen weil sie entschieden hatten fortzugehen...
Mir wurden schlimme Ereignisse am Strand erspart. So musste eine inzwischen zur lieben Freundin gewordene Frau unseres Teams miterleben, als ein Boot kam in dem drei Frauen waren, die auf der Überfahrt ihre Kinder hatten ertrinken sehen.
Ich bleibe noch kurz am shore! Die Rettungsschwimmer patroullieren manchmal mit einem Boot an der Küste, um bereit und nahe zu sein, wenn ein Boot kentert. Eines Nachts kam die griechische Küstenwache (Befehl von oben?) und verhaftete kurzerhand die 5 Rettungsschwimmer, obwohl sie einfach auf ihrem Boot waren, kein Flüchtlingsboot in Sicht. Sie wurden ans Land gebracht und inhaftiert. 3 Jahre Haft drohte ihnen eben wegen „Menschenhandeln“ weil man wusste, dass sie Menschen aus dem Wasser geholt hätten! Was für ein Gesetz, was für eine Welt ist es, wenn Überlebenshilfe illegal, sogar strafbar ist? Am Morgen, als sie vor Gericht kamen, gingen wir mit etwa anderen 100 Freiwilligen in die Hauptstadt – es regnete in Strömen – und demonstrierten für die Verhafteten, drei Spanier und 2 Dänen. Und wir riefen „FREE THEM ALL“, „SAVE IS NOT TRAFFIKING“, ja, Menschenleben retten ist nicht Menschenhandel! Ich stand neben einer Spanierin, wir schauten uns an, nahmen uns in die Arme und konnten nur noch heulen! Nach einem Prozess, Tausenden von Euros Kaution wurden 4 freigelassen, einer von ihnen (wir kannten ihn, er war der Engagierteste und stellte telefonische Verbindungen her mit den Flüchtenden auf den Booten) darf 18 Monaten lang das Land nicht verlassen, was er sowieso nicht machen will, bei ihm war die Kaution noch viel höher. Diese „Aktion“ war einfach eine Machtdemonstration!
So vergingen die meisten Nächte. Und was dort passiert könnte man noch lange erzählen. zB dass die „Geier“ auf die Ankunft von Booten warten, kaum steigen die Menschen aus, holen sie sich den Motor, den sie dann wieder verkaufen.
Tagsüber gingen wir „Strände säubern“. Tausende von verlassenen Schwimmwesten wurden gesammelt, gebündelt und an den Strassenrand gestellt. Sie werden regelmässig von der kommunalen Abfuhr mitgenommen und auf einen Hügel, an den sogenannten Safe-Jackets-Friedhof gebracht. Es türmen sich dort Berge von Westen auf, und jede einzelne erzählt eine Geschichte! Ja, Schwimmwesten, darüber könnte man viel erzählen, zB dass nur eine minimale Zahl von ihnen richtige Schwimmhilfen sind. Die meisten werden mit Schaumstoff gefüllt, der sich rasch mit Wasser vollsaugt; man munkelt, die einen werden sogar mit Sägemehl gefüllt. Ich war schockiert, als ich hörte, dass in Izmir, in der Türkei die Schlepper afghanische Jungen anstellen, um die falschen Schwimmwesten zu produzieren, dafür wird ihnen ein Teil des Betrages erlassen, den sie für die Überfahrt nach Griechenland bezahlen müssten.
Am Strand sammelten wir Abfall mit grossen Abfallsäcken (ich muss dazu sagen, meistens stammte der Abfall gar nicht von den Flüchtlingen! .. denn verrostete Büchsen, Hairspraydosen, alte Pet-Flaschen, nein, das war nicht von ihnen!). Aber wir machten es auch der Umwelt, und den Griechen zuliebe, damit die Touristen (die hoffentlich kommen) saubere Strände vorfinden. Die herumliegenden zurückgebliebenen nassen Kleider der Flüchtlinge hingegen werden von den sogenannten „Dirty Girls“ gesammelt; es sind einige Frauen welche die Kleider sammeln, waschen und wieder für die nächsten Flüchtlinge in Umlauf bringen. Ja, Fantasie und Initiative sind gefragt! Wenn man etwas Sinnvolles, Gutes machen will, dann findet man immer etwas zu tun. So traf ich zB einen Spanier der in Irland wohnt, er kam ganz allein, mietete ein Auto und fuhr von Camp zu Camp um die bereitgestellten Hilfsgüter aus den verschiedenen Kleiderlagern zu verteilen. Jede Art von Hilfe ist willkommen. Jede/jeder kann sich einbringen mit seinen Fähigkeiten, mit seinen Talenten.
Ich bin doch auch ein Beispiel dafür, dass jeder etwas tun kann. Ich bin eine gewöhnliche Familienfrau, habe nicht einmal einen sozialen Beruf gelernt, kann zwar einige Sprachen aber kein Arabisch oder Farsi, nur gerade ein Dutzend griechische Worte.. ein bisschen etwas habe ich doch in diesem Monat gemacht .. und wenn es nur war Kleidungsstücke zu sortieren oder zu verteilen, ein paar mal habe ich für unser Team gekocht, hunderte von Unterhosen ausgepackt und Verkaufsetiketten von den neu gekauften Socken entfernt. Einmal schien die Sonne, ich sass mit zwei anderen Frauen vor unserem Lager auf dem Trottoir und habe stundenlang „chinese socks factory“ gespielt, dabei geredet und gelacht; ein deutsches Touristenpaar lief vorbei und schloss sich spontan an, packte mit uns Socken aus. Am letzten Tag ging ich noch Kartoffel schälen im grössten Flüchtlingscamp in Moria. Freundschaften sind in Lesbos entstanden, wir werden uns auch in der Schweiz wieder treffen, diese strenge aber so erfüllende Zeit hat uns zu einer „Familie“ gemacht. So viele Menschen mit den verschiedensten Nationalitäten kamen zusammen und hatten immer ein gemeinsames Thema, denn alle haben wir den gleichen Wunsch: Menschlichkeit zu praktizieren! Ich kann wirklich behaupten, ich habe in dieser Zeit viel mehr bekommen als ich gegeben habe!
Seit einigen Tagen hat die Küstenwache den Befehl, die überfüllten Boote einzufangen sobald sie auf griechischem Gewässer sind, die Menschen aufzuladen und sie in einen sicheren Hafen auf Lesbos zu bringen. Somit wären wir unserem Traum etwas näher gekommen! Er heisst SAVE PASSAGE, denn die gefährliche Überfahrt mit den Schleppern wäre unnötig, von all den Toten im Meer ganz zu schweigen, 200 bis 350 sind seit anfangs 2016 gezählt worden. Und eine normale Überfahrt mit der Fähre kostet ganze 5 (fünf) Euro! Aber die Flüchtlinge dürfen sie nicht betreten und übernachten in einem Hotel dürfen sie auch nicht! Ist die Welt denn so unmenschlich geworden, dass solche absurde Regeln aufgestellt werden? Meinerseits werde ich immer an „meine“ Flüchtlinge denken, wenn ich hier mal einen ex-Flüchtling treffe, der das Glück hatte bis hierher zu kommen und aufgenommen worden zu sein.
Alle Menschen haben doch das Recht „menschlich“ behandelt zu werden und ein sicheres Leben zu führen! WIR haben doch dieses Glück, teilen wir es doch mit denen, die dieses Glück nicht haben!
Ileana Heer
Winterthur, Februar 2016
Liebe Ileana,
ich kenne dich von der Frauen- Amnesty her. Dein Bericht hat mich tief beeindruckt. Was für eine tapfere Frau du bist. Ich bin dir für deinen Einsatz unendlich dankbar.
Kannst du mir, bitte, schreiben, wohin wir 20 gestrickte Wolldecken schicken können? Hilfswerke wollen keine Naturalien mehr. Danke für eine Adresse!
Dir alles Gute! Herzlich Silja
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