Wir haben die Wahl
Für die Zürcher Spitalseelsorgerin Tatjana Disteli stellen uns Menschen, die zu uns flüchten und hier Schutz suchen, vor die Wahl. Nicht nur am 18. Oktober, sondern jeden Tag neu.
Grüezi! Darf ich Sie fragen, ob Sie persönlich einen Kriegsflüchtling kennen? Nein?
Wir vergessen so schnell.
Selber gehöre ich einer urschweizerischen Familie an mit dem Oltner und Zürcher Bürgerrecht. Allerdings liegt dies im Auge des Betrachters:
Mein Ururgrossvater wanderte als Vertriebener des 1. Weltkrieges in die Schweiz ein. Mein Grossonkel hingegen verliess das geliebte Land mit Sack und Pack in Richtung Kanada.
Heute flüchten andere noch immer mit Kind und Kegel – um ihr Leben. Die Zeichnungen ihrer Kleinen sprechen Bände. Blut klebt an ihrer Erinnerung.
Ob dieser Bilder und Lebensgeschichten vergeht auch uns das Hören und Sehen. Eigentlich wollen wir das alles lieber gar nicht wissen.
Die unpersönlichen Bezeichnungen für dieses Drama helfen bei unserer kollektiven Verdrängung: „Flüchtlingskrise“ und „Flüchtlingswelle“ schaffen Distanz. Doch daraus wird leicht eine Tsunami-Welle, die uns zu erschlagen droht und jeden Pieps im Keim erstickt. Da kommt die pure Angst hoch.
Wenn uns die Ohnmacht angesichts der Millionen Geflüchteten beinahe selber erstickt, müssen wir Kopf und Herz in die Hand nehmen und all das mit der Realität abgleichen: Als ich noch klein war, besuchten Flüchtlingskinder aus der Türkei, aus Ungarn, Tibet und Vietnam meine Schule.
Wir Schweizer kennen also ehemalige Kriegsflüchtlinge schon seit Jahrzehnten, bloss ist es uns meist nicht bewusst. Wir arbeiten in derselben Fabrik, wir kaufen beieinander ein, wir geniessen den Kitzel der weltweiten Küche, wir suchen Ruhe im selben „Raum der Stille“.
Neu ist nun die amtliche Tatsache, dass die zürcherischen Gemeinden seit Anfang Jahr 1‘500 neue Flüchtlinge aufgenommen haben, im Vergleich zu den knapp 1‘500‘000 bisherigen Einwohnern: Langsam tröpfeln jetzt, Woche für Woche, wenige Dutzend Personen über unsere Kantonsgrenzen hinein in den sicheren Hafen. Das Salz des Meeres klebt an ihren Schuhen, das Salz der Tränen an ihrem Gesicht.
Wir alle tragen Salz auf unserer Haut, ja. Aber, hier gibt es einen wesentlichen Unterschied:
Wir Heimische haben die Wahl. Reichen wir die Hand oder bauen wir Mauern? Würzen oder Versalzen – Verbinden oder Trennen. Das ist hier die Frage!
Die atmosphärische Grosswetterlage steht auf der Kippe. Der Kompass zeigt auf Sturm so kurz vor den Wahlen. Neben denen, die den multikulturellen Blumenstrauss lieben, machen neuerdings sogar unter den ehemals aufgeschlossenen Personen pointiert angstgeprägte Vorurteile die Runde: Diese oder jene seien von vorne herein undankbar, frech, gefährlich. Sogar offen deklarierter Hass ist gesellschaftsfähig geworden.
Nein, die Problematik wollen wir nicht weg reden! Aber die Wahrheit ist weder einseitig schwarz noch weiss.
Eine persönliche, bewusste Entscheidung tut Not. Hier und jetzt. Ja, es liegt tatsächlich an Ihnen und an mir, Wegweiser zu setzen.
Um die Wahrheit hinter den Dingen entdecken zu können, brauchen wir erst einmal einen gemeinsamen Boden:
Bloss ein bisschen freundlich sein, Vertrauensvorsprung schenken. Und, wenn nötig, auf- und einstehen, statt wegsehen. Vielleicht ein Wort oder eine Tat zur rechten Zeit. Pure Menschlichkeit eben. C’est tout.
Die innere Haltung macht den Unterschied. Naiv? Nein, realistisch! Versuchen wir’s bei nächster Gelegenheit.
Gibt es auch auf Ihrem täglichen Arbeits- oder Einkaufsweg diese Mutter mit dem Kopftuch im Tram oder diesen dunklen jungen Mann auf der Parkbank?
Verschenken wir ein weltoffenes, sympathisches Lächeln, und wir erleben vielleicht, wie die interkulturelle Sonne aufgeht und den frühen Herbstnebel vertreibt. Ein Lächeln ist ansteckend und fruchtbar. Auf diesem Boden wird der ganze nötige Rest auch noch gedeihen.
Packen wir‘s an, Sie und ich, hier und jetzt, ganz persönlich.
Tatjana Disteli, Dienststellenleiterin Spital- und Klinikseelsorge im Kanton Zürich
Danke, Tatjana Disteli, für Ihren Beitrag.
In vielen Familien sieht es ähnlich aus. Die wenigsten unserer Vorfahren waren Hirten in der Zentralschweiz, sondern sind eingewandert. Fremde aufnehmen ist anspruchsvoll, aber nötig. Also tun wir's.
Danke, Herr Haab.
So ist es - und so sei es.
Dieser Kommentar, Tatjana, ist nicht nur 'von Herzen kommend', sondern auch 'zu Herzen gehend'. Mich hat er berührt. Ganz besonders unterstreiche ich: "die Wahrheit ist weder einseitig schwarz noch weiss" - dazwischen gibt es sehr viele unterschiedliche Grautöne!! Und auch die Erfahrung eines dunkleren Grautons sollte uns/mich nicht ermutigen, dem/der Nächsten dennoch wieder ein Lächeln zu schenken und Offenheit zu zeigen - es könnte sich daraus ja ein ganz weisser Lichtstrahl ergeben!?
.. Ein weisser Lichtstrahl, der bald schon wieder in Richtung Weihnachten weist.. .
Packen wirs an, lieber Rudolf!
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