Kirche aktuell

Wir geben einem Flüchtlingskind ein Zuhause

Wir geben einem Flüchtlingskind ein Zuhause
Rahel Walker Fröhlich
Rahel Walker Fröhlich ist Theologin in der Pfarrei Bruder Klaus. Ursprünglich Slawistin, studierte sie Theologie. Sie vertritt den Generalvikar im Zürcher Forum der Religionen
Rahel Walker Fröhlich
28. Februar 2017

Ein unbegleitetes minderjähriges Flüchtlingskind (UMA) in unsere Familie aufnehmen: Diesen Wunsch hegten wir schon länger. Seitdem Nima* bei uns ist, haben wir viele Fragen – vor allem an uns selber.

Zeichen setzen gegen Krieg und Elend

Die Bilder aus der arabischen Welt halten uns Krieg und Elend vor Augen: Sie zeigen Folter, Vertreibung, Flucht und Gewalt. Als Theologin und Predigerin kämpfe ich in Worten und Gebeten gegen das Leid an. Doch was sind Worte wert, wenn keine Taten folgen? Wir müssen uns engagieren! Das steht für mich ausser Frage.

Aus diesem Grund hatten wir als Familie schon seit längerem den Wunsch verspürt, ein Flüchtlingskind bei uns aufzunehmen. Mir persönlich lagen als Frau vor allem die muslimischen Mädchen und Frauen am Herzen. Mit der Unterstützung eines Mädchens für Gleichstellung und Entfaltung einzustehen, wie sie die westliche Welt pflegt, war mir schon seit längerem ein grosses Anliegen.

Aufwendiges Aufnahmeverfahren

Doch unsere Wohnung in Zürich war klein, zu klein. Wir konnten niemanden aufnehmen. Als wir im Mai letzten Jahres in den Kanton Aargau umgezogen waren, sah die Situation anders aus: in der Wohnung war mehr Platz, und auch innerlich waren wir alle bereit für eine Vergrösserung der Familie.

Über das Sozialamt in Aarau wurden wir an eine Pflegekinderorganisation verwiesen, und es begann ein aufwendiges Aufnahmeverfahren. Denn zu Recht wird hier genau geprüft, wer ein sogenanntes UMA (unbegleitete minderjährige Asylsuchende) aufnehmen darf.

  • Die Abhängigkeit des Kindes von der Pflegefamilie ist gross.
  • Die Ursprungsfamilie ist weit weg.
  • Sprachkenntnisse sind gering oder gar nicht vorhanden.
  • Auch der kulturelle Unterschied vergrössert die Abhängigkeit.

Aus diesen Gründen wird von einem Sozialarbeiter/einer Sozialarbeiterin begleitet, wer ein Flüchtlingskind aufnimmt.

Wir waren froh um diese Unterstützung, vor allem im Voraus, vor der Aufnahme. Denn wir hatten selber keinerlei Erfahrung mit Pflegekindern und hatten viele Fragen:

  • Wie sprechen wir denn mit dem Kind, wenn es kein Deutsch kann?
  • Was machen wir, wenn es zu Hause zu stehlen beginnt?

Nicht wenige Flüchtlingskinder haben einen langen Fluchtweg hinter sich und waren dabei gezwungen, für sich selber zu sorgen. Vorsorglich kauften wir eine abschliessbare Geldkassette und schlossen dort Pässe und Wertgegenstände weg.

Ein Flüchtlingsmädchen aus dem Tibet zieht ein

Nach gut drei Monaten kam die Nachricht: ein Flüchtlingsmädchen sucht eine Familie. Sie heisst Nima, ist 14 Jahre alt und kommt… aus dem Tibet. Im ersten Moment war ich etwas enttäuscht, es wurde also nichts aus dem christlich-muslimischen Engagement. Doch mein Mann war ganz begeistert, da er sich besonders für den Buddhismus interessiert. Das Büro zu Hause wurde also geleert, um einem geflüchteten Mädchen Platz zu machen. Moderne Kommunikationsmittel machen es möglich: mit dem Laptop wird auch das Sofa im Wohnzimmer oder das Café in der Stadt zum Büro und das Zimmer steht als Rückzugsort für ein Flüchtlingsmädchen zur Verfügung.

Im Voraus stellten sich für uns als Christen auch ganz praktische Fragen:

  • Dürfen wir weiterhin vor dem Essen ein Gebet sprechen, wenn Nima als buddhistisches Kind am Tisch sitzt oder ist das übergriffig?

  • Wie können wir unsere Identität als christliche Familie wahren und gleichzeitig offen sein für ein Kind, das eine andere Religion pflegt?

  • Und wie wird unsere Tochter auf Nima reagieren, hatte sie uns Eltern doch bisher vor allem für sich alleine?

Wichtig war uns als Familie, dass wir auch in Zukunft ins Ausland reisen können. Wir selber brauchen den Austausch mit anderen Kulturen und unternehmen deshalb jedes Jahr eine grössere Reise. Als geflüchtete Jugendliche kann Nima aus verschiedenen Gründen hier nicht dabei sein. Doch für unsere Abwesenheit gibt es bei der Pflegehilfeorganisation Entlastungsfamilien, bei denen sie dann die Ferien verbringen kann.

Kinder sind Brückenbauer

Als wir uns mit Nima trafen und sie zu uns nach Hause kam, war sie ganz still und zurückgezogen. Sie sagte kein Wort und schaute zu Boden. Eine grosse Hilfe war da unsere Tochter: Kinder sind im Sozialen spontaner, und bei einem Gang durch Aarau liefen sie schon am ersten Tag Arm in Arm.

Kulturelle Unterschiede halten materiellen Reichtum vor Augen

Vor allem in den ersten Wochen zeigte sich, wie gross die kulturellen Unterschiede für so einen geflüchteten Menschen sind, wie sehr so eine Jugendliche mit unserer Welt auch überfordert ist. Noch nie war Nima im Kino, noch nie im Museum, noch nie hat sie ein Sandwich gegessen.
Auch war sie noch nie in einer grösseren Stadt, ausser auf der Durchreise in die Schweiz.

Bei einem Gang mit Nima durch Zürich in der Adventszeit wurde mir bewusst, wie privilegiert, ja wie dekadent wir doch leben. Wie gross ist unser materieller Reichtum! Und doch scheint mir, dass dieser Reichtum sehr einseitig im Materiellen liegt.

Religiöser Alltag im Tibet und bei uns

Dank den Englischkenntnissen von Nima kamen wir miteinander ins Gespräch, auch über die Religion. In Tibet ist selbstverständlich eine grosse Mehrheit religiös. Natürlich trägt die dort praktizierte Religiosität aus unserer Sicht auch problematische, vormoderne Züge. Dennoch stimmten mich verschiedene Aussagen von Nima nachdenklich, vor allem, als ich mit ihr an einem Sonntag in einem fast leeren Gottesdienst sass.

Während bei uns ein Generationenabbruch stattgefunden hat, nehmen im Tibet noch ganz selbstverständlich alle Kinder und Jugendliche am religiösen Leben teil.

Mentalitätsunterschiede können schwierig sein

Treten im Zusammenleben mit einer geflüchteten Jugendlichen auch Schwierigkeiten auf? Ja, und zwar vor allem hinsichtlich der Mentalität. Tibetische Kinder und Mädchen sind sehr darauf bedacht, die Eltern als Autorität zu wahren. Diese Autoritätsgläubigkeit ist uns in der Schweiz fremd. Wir im europäischen Kulturraum sehen Initiative und Interesse, auch Selbstständigkeit positiv, während ich Nima vor allem als abwartend und passiv erlebe. Es ist jedoch spannend zu beobachten, dass bei ihr in den letzten drei Monaten schon eine Entwicklung stattgefunden hat. Vor allem das gemeinsame Spielen (Brettspiele, Kartenspiele, Sport) sehe ich als Möglichkeit, in einer entspannten Atmosphäre unverkrampft in den Dialog zu treten und einen gelassenen Umgang miteinander einzuüben.

Zusammenleben als gemeinsamer Lernprozess

Wunderbar ist es, wenn Nima vor dem Mittagessen ab und zu auf Tibetisch ein Gebet spricht. Eigentlich ist es mehr ein Singen. Ich verstehe zwar kein Wort, spüre aber, dass sie hier etwas Eigenes einbringt.

Dies ist das eigentlich Spannende, wenn ein Kind aus einer anderen Religion und Kultur plötzlich in den engsten privaten Familienkreis eintritt. Denn es findet eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen und Fremden statt. Es ist ein gemeinsamer Lernprozess.

Das Zusammenleben mit einem Flüchtlingskind, es ist eben wirklich eine win-win-Situation, die ich allen nur empfehlen kann.

Biblische Botschaft wird aktuell

Bei meiner Teilzeitstelle als Gefängnisseelsorgerin habe ich viel Kontakt mit Migrantinnen und Migranten. Ich bin dort manchmal mit Menschen konfrontiert, die wirklich in ausweglosen Situationen zu sein scheinen. Wie gut ist es dann, zu wissen, dass das Beherbergen eines Flüchtlingskindes eben wirklich entscheidend sein kann, damit die Integration in unsere Gesellschaft und ein gesundes und gelingendes Leben möglich werden.

Wird mein Wort in der Predigt nun mehr Gewicht haben? Das Zusammenleben mit Nima hat mir zumindest bestätigt, dass ich mein Leben für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen will.

Rahel Walker Fröhlich ist Theologin in der Pfarrei Bruder Klaus Zürich .

*Nima heisst in Wirklichkeit anders. Dieser typische tibetische Mädchenname steht für viele andere unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder.

Die Pflegekinderorganisation Familynetwork sucht Familien, die ein/e UMA (unbegleitetes minderjähriges Flüchtlingskind) im Kanton Aargau, aber auch im Kanton Zürich aufnehmen wollen. Viele Kinder und Jugendliche warten auf ein Zuhause.
Interessierte melden sich bei:
Damaris Bär
Verantwortliche UMA
familynetwork.ch
Luzernerstrass 23
4665 Oftringen
Tel. 062 / 205 19 50
damaris.baer@familynetwork.ch