Kirche aktuell

Sexueller Missbrauch: Die Schwelle der Empörungen überschreiten

Sexueller Missbrauch: Die Schwelle der Empörungen überschreiten
Präventionsbeauftragter des Bistums Chur
Stefan Loppacher
Stefan Loppacher
14. Dezember 2017

Sexueller Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche ist ein aktuelles Thema, bei dem es genau hinzusehen gilt. Sowohl im persönlichen Leben wie auch in einer Institution gibt es Herausforderungen und Probleme, die uns ein Leben lang begleiten. Die DOK Sendung „Hinter dem Altar“, erstmals ausgestrahlt am 13.12.2017 auf SRF 1, erinnert einmal mehr daran, dass sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige innerhalb unserer Kirche und der Umgang damit ganz klar in diese Kategorie von langfristigen Problemen gehört. Es kann und darf nicht einfach irgendwann „abgehakt“ und als erledigt betrachtet werden. Der Film zeigt hart aber fair, wie es trotz allen positiven Bemühungen in der katholischen Kirche auch weiterhin zur Vertuschung von Übergriffen kommt. In vielen Fällen wird immer noch völlig dilettantisch mit verdächtigen oder verurteilten Priestern und unverzeihlich rücksichtslos mit Opfern umgegangen.

Haben wir genug getan?

Man könnte jetzt aufzuzählen, was auf weltkirchlicher Ebene und in einzelnen Ländern in den Bereichen kirchliche Strafverfolgung, Opferbegleitung und Prävention in den letzten 20 Jahren alles getan wurde. Auch wenn diese Liste wie etwa in Zürich und im Bistum Chur durchaus beachtlich ausfallen würde, vor der Frage „haben wir genug getan?“ könnte sie nicht bestehen.

Zur Vertuschung bestehender Fälle und einer damit einhergehenden Gefährdung neuer potentieller Opfer kommt es nicht nur auf Grund bewusster Fehlentscheidungen oder gar böser Absicht.

Weitverbreitete Naivität, Beratungsresistenz, kulturell bedingte Hemmungen, sich mit einer Thematik auseinander zu setzten, die irgendetwas mit Sexualität zu tun hat etc., reichen aus, um all die Massnahmen, die bereits in Kraft sind, im konkreten Fall wieder ausser Kraft zu setzten. In vielen Ländern der katholischen Welt fehlt schlichtweg immer noch ein Problembewusstsein diesbezüglich.

Natürlich braucht es in einer weltweiten Institution mit knapp 1.3 Milliarden Mitglieder und 3000 Diözesen Zeit, um allgemeingültige und funktionierende Standards zur Überführung von Straftätern und zum Schutz Minderjähriger einzuführen.

Bei allem Verständnis dafür muss jedoch auch gesehen werden, dass genau diese Zeit zu Lasten gefährdeter Kinder und Minderjähriger und zu Gunsten aktueller und potentielle Täter verstreicht. Bereits hier zeigt sich eine nur schwer erträgliche Wahrheit: Für viele Menschen kommen auch die besten Präventivmassnahmen und das effektivste Justizsystem insofern zu spät, als dass gegen sie bereits Akte sexualisierter Gewalt verübt wurden.

Wie konsequent wird die Nulltoleranz umgesetzt?

Im DOK-Film wird unter anderem bemängelt, dass in den letzten Jahren nur etwa ein Viertel aller überführten Priester mit der kirchlichen Höchststrafe belegt, sprich: aus dem Priesterstand ausgeschlossen wurde. Daraus wird geschlossen, dass in der Kirche eben keine, von den Päpsten versprochene Null-Toleranz, sondern offensichtlich eine 75 % Toleranz gegenüber straffälligen Priestern herrscht.

Wie das Schweizer Strafgesetzbuch, so kennt auch das kirchliche Strafrecht unterschiedliche Straftatbestände und ähnlich wie im staatlichen Verfahren wird der Täter auch im kirchlichen Strafverfahren je nach Schwere der Tat mit einer leichteren oder einer schwereren Strafe belegt.

Die Tatsache, dass – wie in der DOK-Sendung dargestellt – „nur“ in 25 % aller behandelten Fälle die Taten als besonders schwer eingestuft wurden und die Täter mit dem kirchlichen Pendant zu einem lebenslangen Berufsverbot betraft wurden, bedeutet keineswegs, dass der Missbrauch bei all den übrigen Tätern in irgendeiner Weise toleriert oder nicht bestraft wurde.

Sexueller Übergriff ist immer schwerwiegend

An dieser Diskussion zeigt sich ein weiteres Dilemma, an dem sich sowohl der staatliche wie auch der kirchliche Gesetzgeber und die zivilen wie die kirchlichen Strafverfolgungsbehörden gleichermassen die Zähne ausbeissen: Streng genommen gibt es so etwas wie einen „leichten“ sexuellen Übergriff auf Minderjährige nicht. Natürlich ist eine einzelne intime Berührung nicht gleichzusetzen mit einer schweren Vergewaltigung. Aber es gibt keine Form sexueller Ausbeutung von Kindern, welche, im Vergleich zu schwereren Übergriffen, mehr oder weniger harmlos wäre. Abgesehen von der Verwerflichkeit der Tat in sich, sind die Konsequenzen insbesondere für minderjährige Opfer sexueller Übergriffe im Normalfall verheerend.

Selbst bei einer einzelnen bewussten sexuellen Berührung wird das Kind in seiner personalen Würde und in seiner psycho-sexuellen Integrität schwer verletzt, was für seine weitere Entwicklung und sein gesamtes Leben bereits schwerwiegende Folgen haben kann.

Sowohl im familiären wie auch im institutionellen Umfeld wird dabei ein Vertrauensverhältnis zwischen Opfer und Täter von letzterem schamlos für seine eigenen Zwecke missbraucht und das Opfer zum Objekt seiner Begierde erniedrigt.

Übergriffe im religiös-kirchlichen Kontext sind besonders abscheulich

Findet die Tat in einem religiös-kirchlichen Kontext statt oder wird sie durch einen offiziellen Vertreter einer Kirche oder Religion verübt, kommen weitere Elemente erschwerend dazu. Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz hat bereits 2003 darauf hingewiesen, dass sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Geistliche ein besonders abscheuliches Verbrechen ist, da sich ein Priester dem Opfer gegenüber in einer Vaterrolle befindet und der Tat somit etwas Inzestuöses anhaftet (vgl. auch sein Beitrag in der FAZ vom 11.2.2010).

Nicht nur das Vertrauen in die Kirche, sondern auch die Gottesbeziehung selbst wird dabei schwer in Mitleidenschaft gezogen oder gar irreversibel zerstört. Neben all den physischen und psychischen Folgen des Übergriffs mit denen das Opfer oft ein Leben lang zu kämpfen hat, wird ihm auch noch der Glaube als wertvolle Ressource genommen und die Beziehung zu Gott vergiftet.

Wie sollte es für eine solche Tat eine angemessene, gerechte Strafe geben? Gewiss sollen die Täter hart bestraft werden. Gewiss muss um jeden Preis dafür gesorgt werden, dass ein kirchlicher Mitarbeiter, der in diesem Bereich straffällig wurde, nie wieder mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Aber auch eine noch so harte Bestrafung vermag das erlittene Leid und den enormen Schaden nicht wieder gut zu machen.

Jeder sexuelle Übergriff gegen Minderjährige, sprich: jede sexuelle Handlung mit Kindern im weitesten Sinne ist ein schweres Verbrechen, egal in welchem Kontext oder unter welchem Vorwand sie vollzogen wird. Enorme Störungen in der persönlichen Entwicklung und schwere psychische Schäden werden dabei verursacht oder auf jeden Fall in Kauf genommen. Ganze menschliche Existenzen werden vernichtet.

Ein Problem der gesamten Gesellschaft

In den letzten zwanzig Jahren hat vor allem guter investigativer Journalismus die Kirche gedrängt, aufzuwachen und sich dem Problem zu stellen. Der Film von John Dickie gehört ganz klar dazu. Wichtig erscheint mir jedoch zu sehen, dass ein allzu exklusiver Fokus auf die katholische Kirche die Problematik in der gesamten Gesellschaft übersieht. Es könnte der irreführende Eindruck vermittelt werden, sexueller Missbrauch Minderjähriger finde vor allem in der katholischen Kirche statt, in der Gesellschaft jedoch kaum.

Sexuelle Ausbeutung Minderjähriger ist ein gesamtgesellschaftliches und globales Problem; ein Markt mit steigender Nachfrage, gerade was die sexuelle Ausbeutung online betrifft.

Blosse Empörung und ein selbstgefälliger Zeigefinger auf die katholische Kirche helfen niemandem weiter. Nur durch effiziente interdisziplinäre Zusammenarbeit von Staat und Kirche, von Psychiatrie und Justiz, von Opferhilfeorganisationen und Bildungseinrichtungen ist es möglich, diesem ungeheuerlichsten aller Übel in unserer Gesellschaft wirksam entgegenzutreten.

Kirchlicherseits muss die Vermittlung von entsprechendem Basiswissen in den Bereichen Psychologie, Kinderschutz und Prävention in der Aus- und Weiterbildung von Seelsorgern zum Pflichtprogramm werden. Erst durch Aneignung von Sachverstand und Fachkompetenz ist es möglich, die Schwelle der blossen Empörung zu überschreiten, um sich gemeinsam für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor jeder Form von sexualisierter Gewalt einzusetzen.

 

 

Stefan Loppacher, geb. 1979 in Schwyz, studierte nach einer Berufslehre als Medienelektroniker Theologie an der Theologischen Hochschule Chur und wurde 2006 zum Priester geweiht. 2014 schloss er an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom das Lizentiat im Kirchenrecht ab. Danach forschte er drei Jahre im Bereich „Kirchliches Strafverfahren und sexueller Missbrauch Minderjähriger“ und veröffentlichte dazu 2017 eine Doktorarbeit mit dem Titel «Processo penale canonico e abuso sessuale su minori. Un‘analisi dei recenti sviluppi normativi intorno al „delictum contra sextum cum minore“ alla luce degli elementi essenziali di un giusto processo». Zurzeit ist als Vikar in Regensdorf (ZH) und als Richter am Diözesangericht des Bistums Chur in Zürich tätig.