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Ostermorgen oder doch noch Karfreitag? Ein Gedankenspiel

Ostermorgen oder doch noch Karfreitag? Ein Gedankenspiel
Felix Senn
Felix Senn ist Bereichsleiter Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut der deutschschweizer Bistümer TBI in Zürich
Felix Senn
13. April 2017

Kann Ostern werden? Und wenn ja: Wie? Der Theologe Felix Senn bietet uns eine herausfordernde Gedanken-Komposition, wie sie uns von der Musik vertraut ist: Vorspiel, Fuge, Nachspiel. Vielstimmig, ruhelos und um ein Thema kreisend.

Präludium – Vorspiel

Vielleicht war ja alles ganz anders. Denn merkwürdig ist es schon, was Johannes uns da erzählt (vgl. Johannes 20,11ff ). Denn Maria aus Magdala weinte nicht, weil Jesus gestorben ist; sie weinte, weil er nicht mehr im Grabe lag, sondern weggenommen war und weil sie nun nicht wusste, wo er hingelegt wurde. Und fast noch merkwürdiger ist: Maria aus Magdala erkannte Jesus nicht, sondern verwechselte ihn mit dem Gärtner. Ist das glaubwürdig? Aber eben: Vielleicht war ja alles ganz anders – und doch wieder beinahe gleich.

Rembrandt_Maria Magdalena_Quelle: Joachim Schäfer – Ökumenisches Heiligenlexikon.

Fuge – Vision

Vielleicht hatte Maria aus Magdala ein Gesicht, will sagen: eine Vision. Und in ihr sah sie Menschen zu hunderten in kleinen Booten auf stürmischer See, um ihr Überleben kämpfend. Sah Menschen zu tausenden in Camps , oft Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, gezeichnet von den Strapazen einer eiligen Flucht, schwach und krank, weinend, frierend, hungernd und dürstend. Sah helfende Hände, aber viel zu wenige und wollte selbst helfend eingreifen, aber schaffte es nicht ins Bild. Sah andernorts am Rande der Wüste Menschen stehen, ausgemergelt, nur noch Haut und Knochen fast und inständig bittend um Nahrung für ihre Kinder wenigstens und auch für sich selber sodann; aber niemand war da, der sie erhörte und ihrer sich annahm. Sah darum Menschen elendiglich sterben, hinweggerafft von Hunger und Mangel .

Sah – Kulissenwechsel – Menschen behäbig in Tatzelwurm-ähnlichen Gebilden sitzen, die auf irgendwelchen Schienen schnell durch eine ihr unbekannte Gegend fuhren, durch dichtbesiedelte Gebiete mit grossen und prunkvollen Bauten. Sah staunend die Menschen darin essen und trinken und Pergamente durchblättern oder auch schimmernde Steinplatten (so schien es ihr wenigstens), darin bzw. darauf waren dieselben Szenen abgebildet, die auch sie vorhin gesehen. Sah nichts von Betroffenheit oder Entsetzen in ihren Gesichtern, sondern satte Zufriedenheit trotz der traurigen Bilder, die sie offensichtlich sahen und doch nicht sahen.

Sah – Tapetenwechsel erneut – einen älteren Herrn mit kecker Frise an einem riesigen Schreibtisch sitzen und Dokumente unterzeichnen, rundum bestaunt von Lakaien, die sichtlich zufrieden waren, dass mit diesen Unterschriften Gesetze zum Schutze von Umwelt und Klima und soziale Errungenschaften wie die Gesundheitsvorsorge für alle endlich wieder rückgängig gemacht wurden, denn das alles koste – so meinte sie aus deren Gesprächen herauszuhören – viel zu viel Geld, und die NutzniesserInnen könnten ja eh nicht bezahlen, und darauf allein käme es an. Sah, wie die Lakaien lachten, feixten und Sprüche klopften zusammen mit dem sitzend Unterschreibenden. Aber Gedanken an Not und Leid oder Empathie für die von Hunger und Angst und Meeresstürmen Bedrohten vermochte sie keine zu gewahren. Sah, wie der Mann am Schreibtisch am Ende ein Dokument unterzeichnete, das den Bau einer Mauer besiegeln sollte; die Kosten dafür waren immens, aber Geld war ja, wie die Lakaien bestätigten, nicht das Problem; davon war genug da – nur nicht bei denen, die arm und schwach waren und einen Arzt oder ein Krankenhaus bräuchten oder ein Dach über dem Kopf oder ein Grundnahrungsmittel oder auch nur ein paar Liter sauberes Trinkwasser. Selber schuld – meinte sie aufzuschnappen aus den Gesprächen. Oder hatte sie sich verhört?

Sah nun geschärften Blicks auch anderswo bereits bestehende riesige Mauern, von Menschenhand erbaut, die meilenweit durch die Landschaft und Wohngebiete sich schlängelten. Sah eine davon, die bereits wieder zur Ruine geworden, aber immer noch traurig die Länder durchschnitt und an Trennung gemahnte; sah eine andere Mauer in ihrem eigenen vertrauten Heimatland , die noch voll in Betrieb war, um Menschen von Menschen zu trennen.

Und plötzlich verschwamm ihr das Bild, und sie sah überall nur noch Mauern, die Menschen von Menschen trennten. Und sie vermochte – wie scharf sie auch zu schauen versuchte – nicht mehr zu sehen, wo Menschen zu Menschen sich wenden und zwischen sich die Mauern niederreissen und wo jene ansteckende auferweckende Kraft nur geblieben, die sie von ihrem Meister geerbt hatte und derentwillen sie nach dessen Tode nochmals zum Grabe kam, um ihm die letzte Ehre zu erweisen und sich bei ihm post mortem zu bedanken für dieses Erbe, die geschenkte Auferweckungskraft. War alles umsonst gewesen?

Buchmalerei: Maria Magdalena bringt den Jüngern die Nachricht von der Auferstehung Jesu, 12. Jahrhundert, aus dem Psalter von St Albans in England, heute im Domschatz in Hildesheim Quelle: Ökumeniches Heiligenlexikon

Postludium – Nachspiel

Ob solch düsterer Bilder und Einsichten erwachte Maria aus Magdala unsanft aus ihrer Vision und wurde abrupt zurück in ihre Zeit katapultiert und stand wieder leibhaft am Grabe, dem leeren. Und wissen Sie was?! Maria aus Magdala erkannte im Gärtner – ohne je von Moderne oder gar Postmoderne gehört zu haben – nur mehr den Prototypen des modernen oder schon postmodern gewordenen „Christen“ und gar nichts mehr von Jesus aus Nazaret und dessen Botschaft von Gottes Reich. Deshalb und allein deshalb weinte sie bitterlich – wie weiland schon Simon Petrus geweint hat, nachdem er Jesus verleugnet hatte (vgl. Johannes 18, 15-18.25-27 ). Man übersehe indes nicht den beträchtlichen Unterschied: Simon Petrus erschrak über sich selbst, weinte über den eigenen Verrat, während über den unsrigen nur mehr Maria aus Magdala weinte – sie, die Jesus noch persönlich kannte, ja vielleicht gar am besten von all den Seinen, sie, die ihn liebte und ihm in der Nachfolge vorbildlich treu blieb bis weit hinaus über seinen Tod und bis hin zu ihrem eigenen.

Was bedeutet es, dass man in uns heutigen Christen den Rabbuni, den Meister, kaum mehr zu erkennen vermag? Und dass selbst Maria aus Magdala, die „Apostelin der Apostel“ (Hippolyt von Rom), daran scheiterte? Und wie kann da Ostern werden? Trotz allem? Oder muss für immer Karfreitag bleiben hienieden?

Felix Senn

Felix Senn ist Bereichsleiter Theologische Grundbildung am Theologisch-pastoralen Bildungsinstitut der deutschschweizer Bistümer  TBI in Zürich