Lebenswert – lebensunwert: Wer entscheidet?
Meine Schwester Elisabeth ist seit ihrer Geburt schwer behindert, geistig und körperlich. Sie hat es nicht einfach im Leben, ist ihr Leben lang auf Betreuung angewiesen. Zahlen grösser als 10 kann sie nicht erfassen, gedruckte Texte kaum verstehen. Seit 30 Jahren lebt sie in einem Heim für Behinderte, verrichtet tagsüber in der geschützten Werkstatt einfachste Arbeiten. Mehr geht nicht.
Ist dieses Leben wert, gelebt zu werden?
Ich kenne keinen Menschen, der so herzhaft, laut und lange lachen kann, wie meine Schwester. Damit steckt sie auch den säuerlichsten Tischgenossen an. Sie hat einen Freund, auch er behindert. Gemeinsam gehen die beiden durch dick und dünn. Er hat ihr sogar gezeigt, wie Facebook funktioniert. Seitdem erhalte ich zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten Nachrichten von ihr. Ich kann sie bisweilen zwar nur schwer entziffern, aber für meine Schwester hat sich damit eine neue Welt eröffnet. Natürlich weiss sie um ihre Behinderung, wäre sicher lieber ‚normal‘, wie ihre Geschwister, die geheiratet haben, eine eigene Familie gründeten. Das alles fehlt ihr sehr. Trotzdem ist sie stolz auf ihr Leben im Heim, froh über viele kleine Dinge des Alltags, glücklich mit ihrem Freund. Sie lebt trotz allem ein erfülltes Leben.
Wer hat das Recht, ihr Leben als weniger wertvoll zu taxieren?
Meine Eltern haben mit ihrem behinderten Kind auch gelitten und manche Träne vergossen. Schuldgefühle, Vorwürfe, das Gefühl von Überforderung nagten schwer an ihnen. Selbstverständlich hätten sie lieber eine gesunde Tochter gehabt. Aber sie nahmen ihr Kind schliesslich so an, wie es ist, wie ihre anderen Kinder. Aber Elisabeth war nicht nur Last. Sie war ein Segen für die ganze Familie, ist es bis heute. Wir alle durften an und mit ihr reifen, über sie kommen wir auch nach dem grössten Streit wieder zusammen. Und immer wieder neu steckt sie uns mit ihrem Lachen an, stiftet Versöhnung und Zuversicht.
Ginge es nach den Visionen so mancher Mediziner und Gesundheitspolitiker, blieben uns Menschen wie Elisabeth und ihre Freundinnen und Freunde im Behindertenheim möglichst bald ‚erspart‘. Das geplante „Fortpflanzungsmedizingesetz“ eröffnet der Selektion der Embryonen nach ‚gesund‘ und ‚krank‘, ‚lebenswert‘ und ‚lebensunwert‘ Tür und Tor. Die modernen Menschenzüchter finden immer neue Wege zum durch-designten Baby, zum perfekten, gesunden, leistungsstarken Menschen, der sich später dann am Ende seiner Kräfte noch selbst ins Jenseits abmeldet. Und wer sein werdendes Kind nicht vorab testen will, soll allfällige Folgekosten selber bezahlen.
Wem diese Vision ein Horror ist, kann das derzeit laufende Referendum nur unterstützen. Wer gar Gott und Bibel als Grundlage seines Menschenbildes nennt, erst recht.
Wohlfeile Moralpredigten alleine reichen nicht, wir müssen auch etwas tun. Von selbst sammeln sich die 50‘000 Unterschriften nämlich nicht. Bis jetzt ist erst ein Drittel zusammen, Anfang Dezember läuft die Frist ab. Generalvikar Josef Annen appelliert deshalb an die Pfarreien, rasch aktiv zu werden. Es ist an der Zeit!
Ich danke ihm, auch im Blick auf Elisabeth.
Hier können Sie den Unterschriftenbogen ausdrucken
Hier der Appell von Generalvikar Josef Annen
HILFE! Der Text mag ja gut gemeint sein. Gleichzeitig erfüllt er ziemlich alle Anforderungen an das, was Stella Young einst als Inspirations-Porno bezeichnete. Die Schwester, die ja zum Glück immer noch lacht, und damit die Last, die sie ist, wieder ausgleicht. Hoffentlich ist sie einverstanden damit. Ich, der ich selbst behindert bin, habe es oft satt, zu hören, wie mich Leute bewundern "Weil ich trotz meines äch soooo schweren Lebens noch glücklich aussehe". Was wäre, frage ich mich dann, wenn die wüssten, dass ich tatsächlich nicht immer glücklich bin? Wissen sie, wie oft ich mich zwinge, glücklich zu sein, damit ich ihnen wenigstens etwas geben kann? MANN! Wie mich dieses Gesülze nervt! Lachen, müssen Sie wissen, kann sehr gut auch zu Leistung werden, die man erbringen muss. Darum stimme ich mit dem Artikel überein: Nein, es ist nicht an uns, zu entscheiden, welches Leben wert ist und welches nicht. Aber ich gehe einen Schritt weiter und bitte Sie: Stempeln Sie ein Leben auch dann nicht als wertlos ab, wenn die Person Ihnen nicht genug lacht und wenn Sie sie nicht inspiriert.
Lieber René, danke für die kritische Rückmeldung. Elisabeth ist es tatsächlich längst nicht immer zum Lachen zu Mute, im Gegenteil. Schon die unzähligen Spitalaufenthalte seit ihrer frühesten Kindheit waren alles andere als lustig! Wie ich ja schrieb, leidet sie auch darunter, keine Kinder zu haben, so wie ihre Geschwister. Natürlich wäre sie lieber gesund als behindert. Und sie kann zwischendurch auch ziemlich bockig und schlecht gelaunt sein (wie ihr Bruder). Trotzdem wehre ich mich dagegen, ihr Leben als weniger lebenswert zu taxieren als meines. Und ich wehre mich gegen die zunehmende Selektion von Embryonen nach lebenswert und lebensunwert. Weil meine Schwester auch ihr Leben liebt - und ihren Freund.
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