Kirche aktuell

Lebenswert – lebensunwert: Wer entscheidet?

Bereichsleiter Kommunikation, Sekretär Interreligiöser Runder Tisch im Kanton Zürich
Simon Spengler

Gesamtverantwortung Kommunikation der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Katholischer Theologe und Journalist.

Simon Spengler
06. November 2015

Meine Schwester Elisabeth ist seit ihrer Geburt schwer behindert, geistig und körperlich. Sie hat es nicht einfach im Leben, ist ihr Leben lang auf Betreuung angewiesen. Zahlen grösser als 10 kann sie nicht erfassen, gedruckte Texte kaum verstehen.  Seit 30 Jahren lebt sie in einem Heim für Behinderte, verrichtet tagsüber in der geschützten Werkstatt einfachste Arbeiten. Mehr geht nicht.

Ist dieses Leben wert, gelebt zu werden?

Ich kenne keinen Menschen, der so herzhaft, laut und lange lachen kann, wie meine Schwester. Damit steckt sie auch den säuerlichsten Tischgenossen an. Sie hat einen Freund, auch er behindert. Gemeinsam gehen die beiden durch dick und dünn. Er hat ihr sogar gezeigt, wie Facebook funktioniert. Seitdem erhalte ich zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten Nachrichten von ihr. Ich kann sie bisweilen zwar nur schwer entziffern, aber für meine Schwester hat sich damit eine neue Welt eröffnet. Natürlich weiss sie um ihre Behinderung, wäre sicher lieber ‚normal‘, wie ihre Geschwister, die geheiratet haben, eine eigene Familie gründeten. Das alles fehlt ihr sehr. Trotzdem ist sie stolz auf ihr Leben im Heim, froh über viele kleine Dinge des Alltags, glücklich mit ihrem Freund. Sie lebt trotz allem ein erfülltes Leben.

Wer hat das Recht, ihr Leben als weniger wertvoll zu taxieren?

Meine Eltern haben mit ihrem behinderten Kind auch gelitten und manche Träne vergossen. Schuldgefühle, Vorwürfe, das Gefühl von Überforderung nagten schwer an ihnen. Selbstverständlich hätten sie lieber eine gesunde Tochter gehabt. Aber sie nahmen ihr Kind schliesslich so an, wie es ist, wie ihre anderen Kinder. Aber Elisabeth war nicht nur Last. Sie war ein Segen für die ganze Familie, ist es bis heute. Wir alle durften an und mit ihr reifen, über sie kommen wir auch nach dem grössten Streit wieder zusammen. Und immer wieder neu steckt sie uns mit ihrem Lachen an, stiftet Versöhnung und Zuversicht.

Ginge es nach den Visionen so mancher Mediziner und Gesundheitspolitiker, blieben uns Menschen wie Elisabeth und ihre Freundinnen und Freunde im Behindertenheim möglichst bald ‚erspart‘. Das geplante „Fortpflanzungsmedizingesetz“ eröffnet der Selektion der Embryonen nach ‚gesund‘ und ‚krank‘, ‚lebenswert‘ und ‚lebensunwert‘ Tür und Tor. Die modernen Menschenzüchter finden immer neue Wege zum durch-designten Baby, zum perfekten, gesunden, leistungsstarken Menschen, der sich später dann am Ende seiner Kräfte noch selbst ins Jenseits abmeldet. Und wer sein werdendes Kind nicht vorab testen will, soll allfällige Folgekosten selber bezahlen.

Wem diese Vision ein Horror ist, kann das derzeit laufende Referendum nur unterstützen. Wer gar Gott und Bibel als Grundlage seines Menschenbildes nennt, erst recht.

Wohlfeile Moralpredigten alleine reichen nicht, wir müssen auch etwas tun. Von selbst sammeln sich die 50‘000 Unterschriften nämlich nicht. Bis jetzt ist erst ein Drittel zusammen, Anfang Dezember läuft die Frist ab. Generalvikar Josef Annen appelliert deshalb an die Pfarreien, rasch aktiv zu werden. Es ist an der Zeit!

Ich danke ihm, auch im Blick auf Elisabeth.

Hier können Sie den Unterschriftenbogen ausdrucken

Hier der Appell von Generalvikar Josef Annen