Kirche aktuell

Der Unterschied zwischen Staubsaugen und Singen

Der Unterschied zwischen Staubsaugen und Singen
Pfarrer in Winterthur
Hugo Gehring
Hugo Gehring
11. November 2013

Was ist der Unterschied zwischen staubsaugen und singen? Singen bereitet Freude, staubsaugen bringt einen Nutzen oder singen hat einen Sinn, staubsaugen erfüllt einen Zweck. Erwachsene haben die Tendenz, den Sinn vom Zweck auffressen zu lassen.

Platz für Sinn und Freude am Dasein

Die jüdische Religion hat der Weltkultur mit der Sabbattradition einen wöchentlichen Sinntag geschenkt. “Sechs Tage sollst Du arbeiten, am siebten Tag aber sollst du ruhen.“ Sechs Tage dürfen mit allen Zwecken gefüllt sein sein, ein Tag aber soll offen sein für: Zusammensein, Freude, Wohlfühlen – aber möglichst wenig Nützliches. Sonst sind wir wieder im Hamsterrad gefangen. Die Christen haben den Samstag-Sabbat auf den Sonntag übertragen. Auch für uns ist es wichtig, dass der Sinn einen regelmässigen geschützten Raum haben muss, in der Form von Sonntagsoasen. Es geht nicht nur ums Auftanken für den Arbeitsbeginn am Montag. Es geht darum, einen Platz offenzuhalten für Sinnerfahrungen, für Freude am Dasein.

Dem Geschenk Sorge tragen

Als Theologiestudent war ich in einem Ferienlager mit geistig behinderten Erwachsenen. Eine Teilnehmerin stammte aus einer jüdischen Familie. Am Freitagabend lud sie ihre Gruppe und mich als Leiter in ihr Zimmer ein. Ohne Erklärung nahm sie zwei Kerzen aus ihrem Koffer, zündete sie an und sang ein hebräisches Lied. Dann hat sie uns umarmt und einen guten Sabbat gewünscht. Ich war tief beeindruckt. Da weiss eine Frau mit einer intellektuellen Einschränkung, dass es zum Wochenablauf gehört, einmal Kerzen anzuzünden, ein Lied zu singen, zu umarmen und gute Wünsche weiterzugeben. Das macht das Leben schön und sinnvoll. So ein wöchentliches Geschenk sollten wir nicht aufs Spiel setzen, sondern Sorge dazu tragen. Sonst besteht das Leben bald nur noch aus staubsaugen.

Hugo Gehring
Schweizer Fernsehen, Wort zum Sonntag vom 17.08.2013