Kirche aktuell

«Man stirbt. Ich auch.»

«Man stirbt. Ich auch.»
Tatjana Disteli
Tatjana Disteli
13. Oktober 2016
Persönliche Gedanken von Spitalseelsorgerin Tatjana Disteli zur Ausstellung
«Noch mal leben vor dem Tod».

Eben sah ich sie – sie, die Lebenden und die Toten.

Es war still, richtig still.

Ich komme unmittelbar von der Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod» und sitze nun im Hauptbahnhof beim Chinesen.

Ich muss das alles ein wenig setzen lassen, bevor ich nach Hause fahre in meine vier Wände, meine sichere Burg. Zu 5% werde ich die Chance haben, in meinem vertrauten Umfeld zu sterben. Ob das zu diesem Zeitpunkt noch mein Wunsch sein wird? Wer weiss.

Meine Gedanken schweifen zurück, lassen das Ganze Revue passieren.. .

Mit Betroffenheit stand ich vor dem Baby, das viel zu früh gegangen ist.

Mit stiller Bewunderung betrachtete ich die alte Dame, die den Wunsch hatte, ein Engel möge sie ins Jenseits führen.

Ehrfurcht erfüllte mich vor dem einsamen Weg des PR-Fachmannes, dessen Freunde im Hospiz Parties für ihn schmissen, während er darüber nachsann, weshalb nicht ein einziger ihn frage, wie es ihm gehe.

Und ich sah in angsterfüllte Augen. In anderen spiegelte sich glückselige Verheissung – und spätere Erlösung. Lang ersehnte Versöhnung erschuf diesen Gesichtsausdruck.

Tatjana Disteli (45), Leiterin Spital- und Klinikseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, beim Besuch der Ausstellung „Noch mal leben vor dem Tod“.

Nun, ich war ja nicht dabei, als diese Menschen ihren letzten Weg antraten. Was auf diesem Weg alles aufblühte oder aber verdorrte, lässt sich bloss erahnen. Mir wird klar: Was ich an Feinheiten in diesen Portraits wahrnehme, widerspiegelt mein eigenes Innenleben, lässt meine persönlichsten Erinnerungen aufleben, meine Ängste für einen Augenblick lang schweigen. Jeder sieht, jeder empfindet hier etwas anderes, still vor diesen Bildern stehend. Aushaltend.

Man stirbt. Ich auch.

Sterbenmüssen ist grausame Gewissheit. Sterbenmüssen ist eine gleichermassen furcht-erregende wie faszinierende Erfahrung. Das Sterbenmüssen ist Erfüllung, Abschluss eines Reifeprozesses, Vergoldung des Lebens.

Man stirbt. Ich.

Verändert dieses Bewusstsein mein Hier und Jetzt, mein Leben? Im Angesicht des Todes gibt es nur noch das wirklich Wichtige neben all dem weniger Wichtigen. Aber halt! Will ich denn überhaupt weiter darüber nachdenken – vielmehr, will ich dieser Erkenntnis nach-spüren?

Emotionen regieren die Welt. Nicht der Intellekt, soviel ist mir heute klar geworden. Wieder mal.

Im Tod sind wir alle gleich, Bankdirektoren und Obdachlose. Immerhin ist diese Tatsache tröstlich. Und auch die: Wir sind eine einzige Gemeinschaft von Lebenden und Toten, von Erinnerungen und Lebensgeschichten.

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Von der Wiege bis zur Bahre sind wir in den Kreislauf der Natur gebettet. Vor dem Fenster der Limmathalle fliesst unaufhaltsam das Wasser dahin, und ich sehe, wie die ersten Herbstblätter tanzend fallen.

Der alttestamentliche Prediger Kohelet schrieb vor 3000 Jahren: «Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen.»

Und auch der römische Philosoph Seneca hatte wohl Recht, wenn er sagte: «Leben muss man das ganze Leben hindurch lernen, und was vielleicht noch sonderbarer klingt: All seine Lebtage muss man sterben lernen.»

Immer schon haben wir Menschen versucht, uns mit Leben und Tod auseinander zu setzen. In seiner Ambivalenz ist der Tod kaum zu überbieten. Eine Macht scheint uns von aussen her zu holen und doch ist sie untrennbar mit uns verbunden.

Ich frage mich, wie Menschen mit ihrer Verzweiflung umgehen, wenn sie nicht an der «Klagemauer» stehen und die Last auch mal abgeben können?

Wie begegnen Menschen der mächtigen Angst gegenüber diesem Sensemann, wenn sie sich tief im Innern nicht in dem Grösseren geborgen fühlen?

Wie gehen Menschen mit der Ohnmacht um, wenn sie in den Bräuchen und Ritualen keinen Halt mehr finden?

Wenn man nicht in ein persönliches Schicksal vertrauen kann, in dem schliesslich doch alles gut wird, alles zur Vollendung kommt?

Er wird es schon richten. So, wie es kommt, so wird es okay sein.

Wie können Menschen Haltung bewahren und weiter gehen durch das dunkle Tal, wenn es ihnen nicht möglich ist, Zwiesprache zu halten mit dem liebevollen himmlischen Du, um neuen Mut zu fassen? Wenn sie sich von Gott und den Menschen verlassen fühlen?

Mit wem kann man Freude und Dankbarkeit teilen, wenn keiner zu Besuch kommt?

Ich weiss es wirklich nicht. Und ich würde es ihnen allen doch so sehr wünschen.

Gott sei Dank ist neben der ständigen guten Medizin, der liebevollen Pflege, der eigenen Familie und den Freunden auch die Seelsorge in unseren Spitälern präsent. Wir brauchen menschliche Begleiter, gerade dann, wenn man scheinbar «nichts mehr tun kann». Das Herz ist mehr, als ein Muskel.

Wir alle sind Kopf, Herz und Bauch. Diese drei.
Körper, Geist und Seele.
Oder Glaube, Hoffnung, Liebe?

Die Seelsorgerinnen und Seelsorger gehen ein Stück des persönlichen Weges mit, entdecken und deuten in diesen existenziellen Erfahrungen auch spirituelle Aspekte. Ergänzend zum Gespräch begleiten sie – wenn man es wünscht – mit wohltuendem Gebet, Symbolen und Ritualen den Schätzen der jeweiligen Tradition und Weisheitslehre.

Wer möchte, kann das Gesprächsangebot auch hier im Rahmenprogramm der Ausstellung nutzen.

Ich darf schlussendlich sagen: Mir hilft diese Ausstellung, dem Tod ein Gesicht zu geben. Viele Gesichter. Und mir wird klar: Es gibt tatsächlich noch Schlimmeres, als zu sterben. Nämlich diese unpersönliche, grosse, tiefe, schwarze Angst unberührt stehen zu lassen. Diese Ausstellung bringt Licht ins Dunkel. Trotz allem.

Ich schrecke auf: Mein Teller wird serviert. Reis mit Rindfleisch und Cashewnüssen. Daneben diese knallrote spicy Chilisauce. Oh ja, ich spüre den Hunger. Ein untrügliches Zeichen: Ich lebe noch.

Und glauben Sie mir, ich weiss das zu schätzen.

Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod»
8. Oktober bis 18. November
Fotos von Walter Schels und Texte von Beate Lakotta
Limmat Hall Zürich, Hardturmstrasse 122, Tram 17 bis Förrlibuckstrasse

Weitere Informationen, siehe: www.noch-mal-leben-zuerich.ch

Tatjana Disteli ist Dienststellenleiterin Spital- und Klinikseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich

www.spitalseelsorgezh.ch