Kirche aktuell

Zivilcourage: «Da müesst me öppis mache!»

Zivilcourage: «Da müesst me öppis mache!»
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
28. Oktober 2014

Zivilcourage ist Sauerteig für die Gesellschaft, Politik und die Kirche. Ausgangspunkt der Zivilcourage ist das persönliche Empfinden, dass etwas Unrechtes, Ungutes oder Verletzendes geschieht. Und dass ich wahrnehme: Meine Werthaltungen werden verletzt, Menschen erfahren Unrecht, oder Menschenrechte werden nicht ernst genommen. Denn gerechte und menschenwürdige Verhältnisse müssen immer wieder neu erkämpft und gefestigt werden. Oft wird uns ja nachträglich klar, dass nicht «man» etwas hätte tun sollen, sondern wir selber, ich persönlich gefordert war. Zivilcourage heisst, dass ich mich nicht hinter etwas oder jemandem verstecke, sondern selber auf-trete. Doch dies ist keine Selbstverständlichkeit. Allein gegen den Strom schwimmen? Das ist schwierig, verunsichernd! Es braucht Mut, sich öffentlich (beispielsweise am Stammtisch oder bei einer Versammlung) gegen die herrschende Meinung oder eine Autorität zu äussern und damit Widerspruch oder einen Konflikt zu riskieren – meist ohne Aussicht auf Lob und Wertschätzung. Gleichwohl tun es Menschen, möchten auch wir es manchmal auch wagen.

Demokratie-Würze

Zivilcourage gehört zur Würze der Demokratie. Insbesondere hinterfragt zivilcouragiertes Handeln die gängigen Autoritäten. Der Feind der Zivilcourage sind der angstbeladene Kadavergehorsam, die Beamtenmentalität des schweigenden Vollstreckens von Anordnungen, oder das gleichgültige Mitläufertum. Zivilcourage kann als eine moderne gesellschaftliche Tugend verstanden werden, die aus dem Ausbalancieren problematischer Extreme hervorgeht: zwischen einseitiger Autoritätsgläubigkeit oder demokratischer Loyalität – und Übereifer, «entwertender Übertreibung» bis zu anarchistischem Revoluzzertum.

Menschen streben zwar nach dem Guten, sind jedoch nicht davor gefeit, Fehler zu machen. Sie sind der Versuchung ausgesetzt, Werte und Ziele absolut zu setzen, etwas «null-komma-plötzlich» haben zu wollen, ohne Rücksicht auf Verluste, auf Verlierer. Dieser Alles-oder-Nichts-Haltung steht die Zivilcourage entgegen. Sie weiss nicht nur um die Beschränktheit menschlichen Verhaltens, sondern auch, dass Gleichgültigkeit und Nichts-Tun gefährlich werden können. Die Entscheidung, wann und wie mutig aufzutreten ist, hängt von der Klugheit, der Erfahrung und von der Situation ab.

Historisch werden oft Beispiele aus Diktaturen oder der Nazi-Zeit in Deutschland angeführt. Unter Lebensgefahr haben Menschen sich dort für Gerechtigkeit öffentlich stark gemacht. Heute leben wir zum Glück unter anderen Verhältnissen. Gleichwohl ist Zivilcourage auch in der heutigen schweizerischen Demokratie gefordert und in einem Zeitgeist nötig, der Grund- und Minderheitenrechte vermehrt infrage stellt. Doch wo und wann ist Akzeptieren von Mehrheitsbeschlüssen – und wo ein öffentliches mutiges «Nein» gefordert? Dieser Entscheid setzt offene Sinne, Lernbereitschaft und eigenständiges Nachdenken voraus. Wer sich den vielen Abstimmungsfragen stellt oder Initiativen unterstützt, weiss, wie herausfordernd dies ist.

Herausforderung für die Kirche

Zivilcourage ist heute aber vor allem im Alltag gefragt: Wo werden in Ihrem Empfinden, liebe Leserin, lieber Leser, Gerechtigkeits- und Solidaritätsideale verletzt? In der Ferne? Vor der Haustür? Im Supermarkt? Auf dem Schulhausplatz, im Dorfladen oder in der Kirche? Und wie geht es dabei Ihrem Rückgrat? «Hend Sie Courage?» Oder geht es Ihnen manchmal wie mir, wenn ich sagen muss?: «Das hätt i mi nid traut.»

Damit stellt sich die entscheidende Frage: Wie kriegt ein Mensch Zivilcourage? Untersuchungen weisen auf verschiedene Faktoren hin. So wirken Anerkennung und Unterstützung durch Eltern, später durch Vorgesetzte förderlich. Auch der Abbau von Angst machenden oder Machtgefälle erzeugenden Strukturen hilft. Entscheidend aber ist, dass Menschen ermutigt und bestärkt werden, selber zu denken! Menschen, die lernen, sich selber ein Urteil zu bilden, können auch sich selbst und die eigene Situation nüchtern anschauen und über Wertvorstellungen nachdenken. Was geschieht, wenn ich dies zulasse? Was passiert, wenn jenes einfach unkommentiert geduldet wird? Die Beantwortung solcher Fragen erlaubt, kritisch Machtverhältnisse, Autoritäten und Angstmacher zu hinterfragen. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, dagegen Rückgrat zu zeigen – und eine Entwicklung zur Verbesserung der Situation einzuleiten.

Auch der Glaube und vor allem seine institutionalisierte Form in der Kirche ist nicht frei von Ungerechtigkeiten, Angst und Autoritätsproblemen. Auch hier bedeutet Zivilcourage, eigenständig zu denken sowie persönlich und einander tatkräftig helfend konstruktiv für eine glaubwürdige, offene und zukunftsfähige Kirche mitzuwirken. Ein aktuelles Beispiel: Es wäre für mich als Mitverantwortlicher an der Kirchendemonstration vom 9. März in St.Gallen einfacher gewesen, in den von den Medien einseitig aufgenommenen Tenor gegen Bischof Vitus Huonder einzusteigen. Auch ich wehre mich gegen ausgrenzende Bischofsworte und selbstherrliche Kleriker – aber viel wichtiger schien mir, (auch wenn ich damit nicht erfolgreich genug war) mit Kraft dafür zu sprechen: Es reicht nicht und wirkt gar kontraproduktiv, einfach gegen die Kirchenleitung «auszurufen». Wir müssen viel glaubwürdiger und überzeugter selber Kirche sein und wirklich als ChristInnen leben!

Zivilcourage ist ohne Mut und Bereitschaft zum Risiko nicht zu haben! Sie ist leichter zu lernen und einzuüben, wenn ich unterstützende Menschen um mich habe. Es wäre schön, wenn wir solche zivilcouragierte Menschen füreinander, für die Kirche und für die Gesellschaft sein können. Abstimmungen, Wahlen, aber auch Dorfsituationen oder der Umgang im Quartier bieten Übungsraum zuhauf!

Titelblatt WeltWeit 03-14

Titelblatt WeltWeit 03-14

Quelle: Themendossier von WeltWeit 3/2014 , der Schweizerischen Zeitschrift für Entwicklungspartnerschaft und globale Gerechtigkeit, 6. Juni 2014