Kirche aktuell

Wie Obdachlose Zürich die Augen öffnen

Wie Obdachlose Zürich die Augen öffnen
Arnold Landtwing
Arnold Landtwing
15. April 2015

Uns Kirchenleuten pfiff an diesem Tag ein kalter Wind um die Ohren. Dies nicht im übertragenen Sinn von irgendwelchen Obrigkeiten, sondern aufgrund des heftigen Biswindes. Ruedi und Peter sind beide Experten der Strasse und wissen, wie man als Obdachloser in der Stadt Zürich überlebt. Auf ihrem Stadtrundgang erzählen sie aus ihrem Alltag und laden zu einem Perspektivenwechsel ein. Ihnen schien der kalte Wind nicht anzuhaben. Völlig entspannt warteten sie an die Mauer gelehnt auf die für den sozialen Stadtrundgang angemeldete Gruppe. Zum Rundgang eingeladen hatte Rudolf Vögele, Leiter Ressort Pastoral im Generalvikariat.  Gefolgt waren der Einladung neben den Verantwortlichen des Generalvikariats selber auch Vertreter aus Synodalrat und Seelsorgerat.

Ruedi und Peter: ein starkes Team

Schonungslos direkt und offen  erzählen Ruedi und Peter aus ihrem Leben, von ihren Träumen und vom Schicksal, das ihnen den Boden unter den Füssen entzog. Doch beide sind starke Persönlichkeiten, lassen sich nicht unterkriegen. Und so geht Peter einer Arbeit bei einem Grossunternehmen nach, verkauft nebenbei die Zeitschrift „Surprise“ und macht soziale Stadtführungen. Seine Motivation ist eine doppelte: er will ein anderes Zürich zeigen und er will sich selber aus seinen Schuldenfesseln befreien. Der mit seiner wilden Mähne und dem wallenden Bart stadtbekannte Ruedi schaut den Besuchern direkt in die Augen und sagt: „Ich bin lebendiger als manch anderer. Und ich gebe nie auf.“ Wer ihm je begegnet ist, weiss, dass dies keine leeren Worte sind.

Biografie Ruedi und Peter

Stadtführer Ruedi und Peter_Screenshot Surprise

Das Wohnzimmer: Café Yucca

Ursprünglich war das Café Yucca an der Zähringerstrasse als Jugendcafé gegründet worden. Der Name stammt von einer Pflanze, die oft in Wohnzimmern steht. Der Name ist gleichzeitig Programm:

„Die Leute, die hier arbeiten, wollen den Besuchern ein Wohnzimmer bieten“, erklärt Ruedi.

So ist das Café Yucca eine Anlaufstelle für Randständige und Obdachlose..

Sozialer Stadtrundgang_1

Surprise-Team_Ruedi und Peter _FOTO_Aschi Rutz

Die katholischen und reformierten Pfarrämter der Stadt verweisen Bettler in die von ihnen getragene Stelle. Vor Ort wird die persönliche Situation von Klienten abgeklärt und dann werden sie allenfalls an andere Institutionen weitergeleitet.

„Das chan ich euch säge: da muesch d’Hose abelah. Die kläred ganz genau ab“, bestätigt Peter die professionelle Arbeitsweise des Yucca-Teams.

Derweil schmunzelt Ruedi und erklärt, dass er ab und zu im Yucca um ein Nachtessen töggele – und immer wieder einmal gewinne.

Für fünf Franken gibt es hier ein warmes Nachtessen, vorausgesetzt drei Regeln werden eingehalten:

  • Kein Alkohol oder Drogen
  • Keine Gewalt
  • Kleintiere nur im Käfig

Letztere Regel bleibt in Erinnerung an vergangene Zeiten stehen. Sie betrifft nicht etwa Hunde, welche oftmals treue Begleiter von Randständigen sind, sondern Ratten. „Zur Zeit des Platzspitz hatten viele Süchtige eine zahme Ratte dabei,“ erinnert sich Ruedi. „Und da ist es vorgekommen, dass dir auf dem Tisch eine Ratte entgegenkam und sich auf deinem Teller bedient hat“.

So gesehen bekommt die dritte Regel durchaus einen praktischen Sinn.

Gassenküche: Wo eine Hunderternote fünfzig Nachtessen wert ist

Ein paar Strassen weiter unten folgte bereits der nächste Zwischenhalt. Hier an der Häringstrasse ist die Gassenküche angesiedelt. Peter weiss genau, an welchen Wochentagen es hier ein kostenloses Nachtessen gibt.

Gassenküche_FOTO_Aschi Rutz

Pro Mahlzeit sitzen zwischen 35 und 50 Personen am Tisch. Wer ausprobieren will, was ein Budget von 100 Franken (also 2-3 Franken pro Person) hergibt, darf die Herausforderung annehmen und bei sich zu Hause die Probe aufs Exempel machen. Auf alle Fälle sind Ruedi und Peter zufrieden mit dem Essen. Und froh, dass es im Gegensatz zu früher heut eine Abwaschmaschine hat. Vorbei am Wurststand, wo die Diskussionen um Eishockey schon so hitzig wurden, dass Ruedi Senf um die Ohren geflogen ist, geht es mit etlichen Anekdoten und Erlebnissen aus dem Leben auf der Strasse Richtung Amtshaus.

Das Amtshaus ist auch Unterkunft

Hier erst erschliesst sich einem der Tiefere Sinn der Frage „Häsch scho en Boge?“. Die Bogen beim Amtshaus bieten einigermassen Schutz gegen die Witterung und haben einem Obdachlosen jahrelang als Schlafplatz gedient. An ganz strengen und kalten Wintertagen schaut die Kältepatrouille von Pfarrer Sieber regelmässig bei den Bogen vorbei und nimmt mit den Obdachlosen Kontakt auf. Die Frage, ob die Nahe Polizeiwache denn nicht ein Nachteil sei, verneint Peter.

„Wenn du am Abend keinen Lärm machst und am Morgen den Platz sauber zurücklässt, lässt dich die Polizei in Ruhe.“

Amtshausbogen

Amtshausbogen_FOTO_Aschi Rutz

Er schätzt, dass im Kanton Zürich etwa 200 Obdachlose unterwegs sind. Ruedi richtet sich mit seinem Schlafplatz nach dem Wetter aus. Er hat am See einen Sommerplatz, an einem anderen Ort einen Regenplatz, wo er sogar fliessendes Wasser und einen Grill zur Verfügung hat und sogar im Winter findet er einen geheizten Unterschlupf. Seine Basis befindet sich jedoch in Chur, wo er ein Zimmer hat.

„Tuubeschlag“: Der schönste Ort in Zürich

Als „schönsten Ort in Zürich“ bezeichnet Rudi den „Tuubeschlag“. Hand aufs Herz: Wer schon in Zürich war, weiss, wovon Rudi spricht. Oder? Für alle Fälle: Der Tuubeschlag ist die Ecke unter den Bäumen auf der Bahnhofbrücke, wo sich an warmen Tagen die Alkszene trifft. Es ist ihr Zuhause. Ein paar Schritte weiter befindet sich der Verkaufsplatz von Ruedi, wo er Position bezieht, wenn er die neueste Ausgabe der Zeitschrift „Surprise“ unter die Leute bringen will.

Bahnhofkirche: vom Bettler bis zum Bankdirektor

Warum schwebt der grosse Engel von Nikki de Saint Phalle eigentlich genau an der Stelle, in der Bahnhofhalle, wo er heute ist? Dem war nämlich nicht immer so. Jahrelang wechselte er seine Position und musste in aufwändiger und teurer Übung jeweils umplatziert werden. Ein kleiner Tipp: auf den meisten Kirchtürmen findet sich ein Kreuz oder ein Hahn. Da die Bahnhofkirche keinen Turm hat, schwebt der Engel über ihr und signalisiert, wo sich die Kirche im Untergrund befindet.

Bahnhofkriche

Bahnhofengel_FOTO_Aschi Rutz

Sieben Seelsorger und Seelsorgerinnen stehen für Gespräche und Begegnungen zur Verfügung. Im interreligiös ausgerichteten Raum der Stille bieten sie regelmässig kurze Besinnungen an. Wer sich Zeit nimmt, hier zu verweilen, stellt schnell fest, dass erstaunlich viele Leute den Ort aufsuchen, ein paar Minuten verweilen und dann weiter ihres Weges gehen.

Surprise: Die Überraschung als Erfolgsmodell

„Surprise“ ist das führende Strassenmagazin der Schweiz und erscheint alle 14 Tage. Im Hintergrund arbeitet eine professionelle Redaktion, die auf ein breites Beziehungsnetz zählen kann. Der Verkaufskanal ist praktisch ausschliesslich die Strasse. Beineha 300 menschen, denen in der Deutschschweiz sonst der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, bietet Surprise eine Aufgabe und eine Chance, selber Geld zu verdienen und neues Selbstvertrauen aufzubauen. Vom Verkaufspreis von sechs Franken gehören 2.70 Fr. als Lohn dem Verkäufer, wobei der Ertrag der ersten zehn verkauften Exemplare gänzlich dem Verkäufer zukommen. Ruedi hat mehrere Verkaufsplätze und er weiss genau, wann er wo zu welcher Zeit am meisten Surprise verkaufen kann. Er führt peinlich genau Buch über die Witterung, Verkauf, Trinkgeld und Arbeitszeit. Seine handgeschriebene Statistik reicht bis ins Jahr 2008 zurück.

Surprise

Surprise-Magazin_FOTO_Arnold Landtwing

Wer Peter und Ruedi begegnet, zweifelt nicht einen Moment an deren Aussage: „Wir Surprise-Verkäufer sind Psychologen. Wir wissen genau, wie ihr tickt, wenn ihr uns auf der Strasse begegnet. Wir merken sofort, wer ausweicht, wer Interesse hat und wen wir in ein Gespräch verwickeln können. Wir können Menschen lesen.“

Caritas-Markt

Die letzte Station führt in den Caritas-Markt und zur Kultur-Legi . Im vergangenen Sommer konnte an der Reitergasse 1 ein neuer Caritas-laden eröffnet werden.

KulturLegi

Caritas-Laden_FORO_Aschi Rutz

Schon vom ersten Tag an fanden erstaunlich viele Kunden den Weg in den neuen Laden. Armutsbetroffene können hier Früchte, Gemüse und Lebensmittel sowie Artikel des täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen einkaufen. Ein spezieller Ausweis oder die KulturLegi berechtigen dazu. Mit letzterer ist es auch Armutsbetroffenen möglich, zu vergünstigten Konditionen Angebote aus dem Bereich Bildung, Sport und Kultur zu besuchen.

Was Peter an dieser letzten Station nachdenklich macht, ist die Tatsache, dass 99 Mal mehr Lebensmittel vernichtet werden als alle 25 Caritas-Läden täglich verkaufen.

Zweieinhalb Stunden lang waren wir durch das bitterkalte Zürich unterwegs. Ruedi und Peter haben uns die Augen für eine Realität geöffnet, die wir nur vom Hörensagen kennen und die uns betroffen macht. Wir waren mit zwei Menschen auf Spuren ihres Lebens unterwegs und haben das Gesicht der Armut wahrgenommen. Mitten in der Stadt Zürich. Das gibt uns zu denken. In diese Nachdenklichkeit hinein misch sich auch die Wahrnehmung, dass etliche der wichtigen Anlaufstellen für Obdachlose finanziell von den Kirchen getragen werden.

„Es ist ein Grundauftrag für uns als Kirche, dass wir uns für die Benachteiligten einsetzen“, sagt Markus Hodel, Generalsekretär des Synodalrats. „im Kanton Zürich sind wir in der glücklichen Lage, dass wir dies Dank der Kirchensteuern in hohem Mass auch tun können. Nicht zuletzt auch Dank den Beiträgen aus juristischen Kirchensteuern.“

Solidarität in der Armut

Sozialer Stadtrundgang

Peter und Ruedi – Surprise-Team_FOTO_Aschi Rutz

Noch lange hallte eine kleine Geschichte vom Rundgang nach: Es gab Tage, da ging es Ruedi schlecht, er hatte keinen einzigen Rappen mehr in der Tasche. Wenn er dann Peter begegnete und dieser noch zwanzig Franken zur Verfügung hatte, dann teilte er diese aus dem einfachen Grund „weil es dem Ruedi schlechter ging als mir.“

Wir bedanken uns bei Ruedi und Peter: Für ihre Offenheit und ihre Direktheit. Wir sind beeindruckt, wie sie der Armut die Stirn bieten und sich nicht unterkriegen lassen.

Den Multimillionär plagen Existenzängste – Ruedi nicht

Zum Jahresanfang suchte Radio SRF3 am 5. Januar 2015 in der Sendung Focus 180° bewusst den Dialog zwischen vermeintlichen Gegensätzen. Was trennt den Multimillionär Guido Fluri von Strassenmagazinverkäufer Ruedi Kälin? Was verbindet die beiden? Macht viel Geld viel glücklicher?

Jetzt: Sozialen Stadtrundgang buchen!

Wer sich über den Verein Surprise informieren möchte oder einen Stadtrundgang buchen will, findet hier alle wichtigen Informationen

Verein Surprise
Koordination „Sozialer Stadtrundgang“
Engelstrasse 64
8004 Zürich
044/242 72 14
rundgangzh@vereinsurprise.ch

http://www.vereinsurprise.ch/zurich/stadtfuehrer/