Kirche aktuell

Wer glaubt, stirbt auch. Aber anders!

Wer glaubt, stirbt auch. Aber anders!
Leiter Ressort Pastoral Generalvikariat
Rudolf Vögele
Rudolf Vögele
03. November 2015

Sehr persönliche Erfahrungen verleiten mich immer wieder zu der These, dass der Mensch sein Leben und Sterben selbst ‹in der Hand hat› – und damit meine ich hier keineswegs Suizid! Bei einer Tagung zum Thema «Alterssuizid» war es der angesehene Gerontologe, Dr. Heinz Rüegger, als Theologe und Ethiker wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Neumünster in Zollikerberg bei Zürich, der über das «Sterben in Würde» sprach.

Er hatte meine volle Aufmerksamkeit, als er in seinem Vortrag zum Fazit kam:

«Problematisch am heutigen Verständnis eines selbstbestimmten Sterbens ist allerdings die oft vollzogene Identifizierung eines ‹würdigen› Sterbens mit einem ‹selbstbestimmten› Sterben, als wäre es eines Menschen unwürdig, den Prozess des Sterbens hinzunehmen und zu erdulden, wie er sich ereignet, wenn wir ihn unmanipuliert geschehen lassen, ohne ihn medizinisch hinauszuschieben oder abzukürzen… Die Psychotherapeutin und Sterbebegleiterin Monika Rentz hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Loslassen-Können, dass die Bereitschaft zum Durchleben eines Sterbeprozesses mit allem, was einem dabei widerfährt, eine elementare Voraussetzung für ein existenziell gutes, humanes Sterben ist.»

Bei der anschliessenden Diskussion bestätigte Heinz Rüegger dann noch meine langjährige These, dass um das Thema Sterbehilfe eigentlich ein viel zu grosses Spektakel vollzogen wird. Auf eine entsprechende Frage antwortete er etwa so:

«Wer heute sterben will, kann dies genauso wie die Indianer, die wir aus den Filmen Karl Mays kennen: sich zurückziehen an einen einsamen Ort und Manitu das Leben zurückgeben. Früher wie heute braucht man dazu rein medizinisch nicht mehr als zehn Tage.»

Das finale Fasten als selbstbestimmter Weg

Die Medizin spricht dabei von einem «terminalen Fasten», wie es ehemalige Zürcher Stadtarzt Albert Wettstein in einem Interview im Tagesanzeiger dargelegt hat.

Auf die Frage, wie so etwas vor sich gehe, antwortet er:

«[Das finale Fasten ist] eine natürliche Art zu sterben. Ist jemand lebensmüde, fallen Essen und Trinken ohnehin schwer. Essen und Trinken sind mit Lebensgenuss verbunden. Die Menschen, die terminal fasten, verhungern nicht, und sie verdursten nicht. Bei guter Mundpflege haben sie keine Durst- und Hungergefühle. Sie lassen das Leben los und sterben. Und sollten sie es sich noch einmal anders überlegen, können sie nach Tagen wieder mit Essen und Trinken beginnen. Das ist natürlicher und schöner, als mit Schläuchen im Körper auf den Tod zu warten.»

Zudem habe eine Studie in den USA kürzlich nachgewiesen, dass man dabei weniger leide als bei der Einnahme eines tödlichen Cocktails und dass man einen höheren inneren Frieden habe.

Diskussion muss geführt werden

Damit soll von meiner Seite aus nicht die dringend notwendige Diskussion um die Sterbehilfe Todkranker oder seit neuestem auch von lebensmüden, alten Menschen, wie sie hier in der Schweiz von Organisationen wie DIGNITAS angeboten wird, beiseite geschoben sein.

Ich teile mit vielen Experten die völlig unkirchliche Ansicht, dass wir als Kirchenleute gegen die Autonomie der Menschen nicht ankommen, die ihr Leben lang selbstbestimmt gelebt und nun im Alter auch selbstbestimmt gehen wollen.

Dieser nun alt gewordenen 68er-Generation mit einem ‹moralischen Zeigefinger› zu kommen, verstärkt nur noch die Abseitsposition der Kirchen.
Zunächst müssen wir einfach nur mal abgewöhnen, immer wieder zu behaupten: «Es war Gottes Wille» oder «Auf Gottes ewigen Ratschluss hin…». Denn dadurch leugnen wir schon eine Wirklichkeit, die Heinz Rüegger als das Phänomen unserer Gegenwart beschreibt: dass wir nämlich medizinisch und psychisch den Tod schon lang ‹domestiziert› haben:

«Ging man früher davon aus, dass einem der Tod zu bestimmter Zeit als unabwendbares Schicksal widerfährt («wenn es dem Herrn über Leben und Tod so gefällt »!), können wir heute ein gutes Stück weit selbst mitbestimmen, ob eine Krankheit zum Tode führt oder überwunden wird. Und weil wir rein objektiv medizinisch darüber entscheiden können, wird daraus auch ein Entscheiden-Müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir haben in vielen Fällen gar nicht mehr die Möglichkeit, über Ort, Zeitpunkt und Art des Sterbens nicht zu entscheiden. Sterben ist weithin zu einem von Menschen bestimmten Sterben geworden!»

Was heisst das nun in Bezug auf das Thema Glaube?

  1. Kirche muss ihre Verkündigung in Bezug auf Tod und Sterben neu überdenken. Wenn ich beispielsweise das Rituale (also jenes Buch, in dem Gebet und Lesungen für Trauerfeiern vorgegeben sind) in die Hand nehme, dann kann ich mindestens die Hälfte aller Vorschläge nicht nachvollziehen, weil genau jener ‹Glaube› zur Sprache kommt, den ich nicht habe – und mit mir wohl die Mehrheit meiner Mitmenschen. Die Kirche katapultiert sich durch ihre Kirchenleute, die unreflektiert solche Zeremonien abhalten, aus dem Denk- und Lebenssystem vieler, die dies miterleben. Und deshalb werden bei ‹Freidenkenden› [und ich meine damit nicht nur die Konfessionslosen] lieber die freien Trauerredner oder überhaupt freie Riten genutzt als die – schon finanziell billigere – Variante durch den Pfarrer oder eine andere Vertretung der Kirchen.

    Die Vorbereitung und Gestaltung von Abschiedsfeiern wie auch die gesamte Trauerpastoral braucht Zeit und hohe Sensibilität. Wer dies nicht aufbringen will bzw. kann, soll es lieber sein lassen, denn er oder sie schadet nicht nur ‹dem Unternehmen Kirche›, sondern viel mehr noch den Betroffenen.

    Und von denen haben sich schon zu viele aufgrund solcher Erfahrungen von der Kirche abgewandt. Und ein Zweites, für mich viel Wichtigeres:

  2. So wie wir als Christinnen und Christen leben und sterben, geben wir Zeugnis von unserem Glauben – mit und noch viel mehr: ohne Worte.
    Das Zeugnis Jesu, lieber den Kreuzestod in Kauf zu nehmen als seine Botschaft vom Reich Gottes zu verraten, wenn es brenzlig wird, hat (wie schon gezeigt) Unfassbares hervorgerufen. Das Zeugnis der unzähligen Märtyrer, die lieber ihr Leben hingaben als dem Kaiser zu opfern und damit ihren Glauben zu leugnen, hat unzählig viele neue Gläubige hervorgebracht. Das Leben vieler Mystikerinnen und Mystiker, die nach eigenen Aussagen schon auf Erden «den Himmel offen sahen» und deshalb durch Todesandrohungen nicht zurückgeschreckt werden konnten, hat etliche Machthaber an ihre Grenzen gebracht. Und ein ganzes Heer von gläubigen Menschen, die ‹friedlich entschlafen› sind, weil sie aus einer Hoffnung lebten, die über dieses Irdische hinaus ging, hat schon mehr Menschen zum Umdenken gebracht als viele Predigten in den Trauergottesdiensten.

Tiefgläubige Menschen: unwissend, aber erfüllt

Tiefgläubige Menschen

  • sind für mich nicht diejenigen, die gewissermassen unwissend, aber doch mit einer persönlichen Gewissheit dem Jenseits entgegeneilen, weil sie sich dort das wahre Heil, die Erlösung von allen Gebrechen oder Benachteiligungen erhoffen – und im Gegenzug oft die Bestrafung all derer, denen es im Diesseits besser erging.
  • Menschen, die in diesem Leben hier ihre ‹Erfüllung› gefunden haben, die der tiefen Überzeugung sind: ja, es war gut und sinnvoll, dass ich gelebt und wie ich gelebt habe! Solche Menschen können dann irgendwann in ihrem Leben – und das muss nicht erst im hohen Alter sein – mit Paulus sagen: «Tod, wo ist dein Stachel?» (1 Korinther 15,55), gerade weil der Tod für sie der endgültige Abschluss, die ‹Vervollkommnung› ihres Lebens ist.

Eine Heilige unserer Zeit, sie starb 19 Jahre alt

Eine grosse Heilige (selbst wenn sie nur selig gesprochen wurde) ist für mich die junge Chiara Badano. Kurz, aber treffend zusammengefasst, findet man ihre Geschichte auch in Wikipedia:
«Chiara Badano kam 1971 in Sasello, einem kleinen Dorf in Norditalien, zur Welt. Der Vater war LKW-Fahrer, die Mutter Angestellte in einem Betrieb, der Amaretti herstellt. Chiara besuchte den Kindergarten und die Grundschule in Sasello, trieb Sport und lernte Klavierspielen. Als sie 14 Jahre alt war, zog die Familie in die Stadt Savona. Im Januar des Jahres 1989 wurde bei Chiara ein aggressiver Knochenkrebs diagnostiziert. Es folgten Operationen, Chemos, verschiedene Therapien, Hoffnungen, Enttäuschungen. Die Art, wie Chiara ihren Umgang mit ihrer Familie, ihren Freundinnen und Bekannten und auch mit ihrer Erkrankung gestaltete, war von einer tiefen Beziehung zu Jesus geprägt. Ihr Verhalten weckte Erstaunen, ihre innere Klarheit und die tiefe Freude in ihren Augen wirkten berührend und anziehend. Den Beinamen ‹Luce› (Licht) bekam sie von Chiara Lubich, der Gründerin der Fokolar-Bewegung, mit der sie in engem Briefkontakt stand. Als Chiara Badano am 7. Oktober 1990 starb, blieb das Zeugnis eines jungen Menschen, der den Alltäglichkeiten des Lebens eine große Bedeutung geben konnte. Chiara Badano wurde am 25. September 2010 im Santuario della Madonna del Divino Amore in Rom selig gesprochen.»
Chiara hatte nur 19 Jahre zum Leben, aber sie hat in den letzten Jahren alles gegeben, was ein gläubiger Mensch zu geben vermag…

Der Tod als Besiegelung

Der Tod ist für mich eine ‹Besiegelung› dessen, woran ich gestern und heute geglaubt habe, und eine ‹Vollendung› von dem Menschen, der ich bis heute geworden bin: Egal, was dann meine ‹Hinterbliebenen› über mich denken und wie sie mich sehen: ich selbst kann an diesem Bild, das ich durch mein Leben, mein Verhalten, meine Beziehungen usw. gezeichnet habe, nichts mehr ändern. Nur noch diejenigen, die an meinem Grab stehen, können es verändern. Deshalb habe ich bei Bestattungen auch ganz gerne gebetet: «Vollende du, Gott, das gute Werk, das er auf Erden begonnen hat!». Und – klar – ich meinte damit nicht nur den Gott im Himmel (oder wo auch immer sein mag), sondern alle, die das Göttliche in sich tragen, also gerade auch diejenigen, die diesem Verstorbenen etwas zu verdanken, weiterzuführen oder auch zu verzeihen haben.
Irgendwie finde ich es schade, dass wir heute dieses natürliche Verhältnis zum Tod verloren haben. Franziskus – und ich meine nun den Ordensgründer aus dem Mittelalter – hatte noch liebevoll von seinem «Bruder Tod» gesprochen und ihn stehend empfangen. Für mich ein Idol…