Kirche aktuell

Warum durfte ich nicht leben?

Warum durfte ich nicht leben?
Leiter Behindertenseelsorge Zürich
Stefan Arnold
Stefan Arnold
26. Mai 2015

Ihr habt euch entschieden. Ich soll nicht in den Mutterleib implantiert werden. Die Ergebnisse der Untersuchungen vor der Einpflanzung zeigten, dass ich eine Behinderung haben werde. Ihr habt euch gegen mich entschieden.

Ich entspreche nicht euren Massstäben. Aber es sind vermutlich nicht einmal eure eigenen Erwartungen, sondern eher jene der Gesellschaft, der Wirtschaft oder der Vorsorgeeinrichtungen.

Habt ihr von jenen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom gehört, die für eine Umfrage von ihrer Erfahrungen berichteten? Über ein Viertel von ihnen mussten sich schon anhören, dass sie nicht alles unternommen haben, um „so“ ein Kind zu verhindern. Die Begeisterung über ein Kind mit Behinderung hält sich also in Grenzen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass ihr euch sorgt.

„Was passiert mit unserem Kind mit Behinderung, wenn wir als Eltern nicht mehr leben? Wird es Menschen begegnen, die es gut mit ihm meinen?“

Aber was ist mit all den anderen Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern mit Behinderung, die bereits leben? Wenn ich nicht der Norm der Gesellschaft entspreche, dann merken jene doch, dass sie ebenso wenig willkommen sind und nicht den Vorgaben und Standards der meisten Menschen entsprechen.

„Hauptsache, es ist gesund.“ Eine Aussage, die gerade werdende Eltern oft zu hören kriegen. Ihr wohl auch. Ja, die Gesundheit ist für euch ein hohes Gut. Sie ist erstrebens- und erhaltenswert. Aber wenn deine Mutter schwer krank wird, hat sie die Hauptsache ihres Lebens verpasst? Besteht die Hauptsache des Lebens darin, „nur“ gesund zu sein?

Ihr seid euch gewohnt, eure Wünsche zu erfüllen. Ich weiss, dass Ihr euch nach einem Kind sehnt. Ich kann es gut verstehen, dass Ihr alles unternommen habt, um ein Baby zu bekommen.

Meine ältere Schwester entspricht nun euren Wunschvorstellungen. Aber werden sie nicht immer wie ein Schatten über ihrem Leben sein? Wünscht ihr euch nicht auch nach ihrer Geburt, dass sie so ist, wie ihr es möchtet? Was ist, wenn sie nach der Geburt nicht mehr dem entspricht, was ihr wollt?

  • Vielleicht hält sie dem Leistungsdruck unserer Arbeitswelt nicht stand.
  • Sie wird schwer depressiv und trägt eine bleibende psychische Beeinträchtigung davon.
  • Oder sie hat einen Unfall auf dem Schulweg und dadurch eine bleibende Behinderung.

Was macht ihr dann mit ihr?

Ich freue mich, dass meine Schwester leben darf. Gleichzeitig merke ich: Ich möchte auch leben. Ich möchte euch als Eltern lieben. Und glaubt mir, das kann ich sehr gut.

Wahrscheinlich wäret ihr bei meiner Geburt schockiert. Ich schätze, ihr wäret traurig. Vermutlich fragt ihr euch, warum gerade Ihr ein Kind mit Behinderung habt. Ziemlich sicher hätte ich euch grosse Sorgen und wohl auch schlaflose Nächte bereitet. Gut möglich, dass ihr mich zur Operation begleitet und mich auf den Operationstisch gelegt hättet. Mein Weinen hätte wohl euer Herz zerrissen.

Ja, ich weiss, einiges hätte ich euch zugemutet in der Hoffnung, dass ihr den Mut und die Freude an mir und dem Leben nicht verloren hättet.

Ich bin überzeugt: Hättet ihr mich mal kennengelernt, ihr hättet mich nicht mehr zurückgegeben. Ich hätte euch gezeigt, was im Leben wirklich wichtig ist. Vielleicht hätte ich einem Menschen sogar seine Frage nach dem Sinn seines Lebens beantworten können.

Ich hätte euch in Kontakt gebracht mit anderen Kindern mit Behinderung und deren Eltern. Ich hätte meinen Beitrag zu einer Gesellschaft leisten können, zu der alle dazu gehören.

Die Welt wäre durch mich reicher geworden.

Jetzt habe ich ein ziemlich komisches Gefühl. Muss ich euch beweisen, was ich euch bringe? Reicht es nicht, dass ich seit der Verschmelzung eurer Ei- und Samenzelle lebe? Ich möchte einfach leben wie meine Schwester. Ich möchte in euren Armen liegen und von euch gehalten sein. Vieles kann ich nicht. Ich bin auf euch angewiesen. Ich kann euch nicht umarmen.

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Ich kann euch nicht sagen, dass ich Euch liebe.

Aber seid gewiss, ich hätte einen Weg gefunden, euch dies zu zeigen.

Ich hätte einen Weg gefunden, die Welt reicher und bunter werden zu lassen.

Aufgrund seiner Erfahungen als Leiter der Behindertenseelsorge Zürich hat sich Stefan Arnold in die Lage eines Kindes versetzt, das vorgeburtlich selektioniert wird, weil es behindert sein könnte.

Die Behindertenseelsorge ist Mitglied des Vereins Ganzheitliche Beratung und kritische Information zu pränataler Diagnostik

Ein Nein zur PID empfehlen auch die Schweizer Bischofskonferenz und das nationale Komitee „Nein zur PID“ www.nein-zur-pid.ch