Kirche aktuell

Gläubig aufstehen und als Atheist ins Bett

Gläubig aufstehen und als Atheist ins Bett
Pfarrer in Winterthur
Hugo Gehring
Hugo Gehring
26. September 2014

„Es gibt Tage, da stehe ich am Morgen gläubig auf und gehe abends als Atheist zu Bett.“

Dieser Satz, den ich in einem Buch gelesen habe, hat mich angesprochen. Auch ich kenne grosse Schwankungen in meinem Glauben. Vielleicht ist die Spannung bei mir nicht jeden Tag ganz so gross: von gläubig bis zum Atheist.

Aber den Glauben erlebe ich als eine Beziehung, in der es Auf und Ab gibt, Nähe und Ferne, Momente des Getragen-Seins und des Sich-Einsam-Fühlens, Erfahrung von Geborgenheit und von Gott-Verlassenheit, von Vertrauen und Zweifel.

Am Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag öffnet uns der Staat gleichsam eine Tür für die Dimension des Glaubens. Deshalb mache ich das heute zum Thema.

Und ich beginne mit dem Zweifel. Was bringt mich am meisten zum Zweifeln? Wenn mir ein junger Mann erzählt, wie er als Dreizehnjähriger gebetet hat, seine Mutter möge wieder gesund werden und sie trotzdem gestorben ist, dann lese ich in seinen Augen die Frage: Warum? Und ichspüre auch in mir nur diesen Abgrund: Warum? Und mir kommen echte Zweifel: Sind unsere religiösen Hoffnungen nicht alles nur fromme Illusionen?

Zum Glück gibt es auch immer wieder gute Gründe, die den Glauben in mir stark machen. Das Wunder des Lebens, über das ich immer wieder ergriffen staune, das haben wir nicht selber geschaffen, sondern geschenkt bekommen und wir dürfen es weitergeben. Dieses Geschenk hat einen Ursprung und ein Ziel ausserhalb von uns. Oder wenn ich jemanden wirklich gern habe, dann nehme ich den Wert der Person wahr, der nicht abhängig ist von dem, wie sie ist und was sie tut, einen Wert, der mit dem Mensch-Sein gegeben ist und nicht von uns stammt.

Was mich jedoch am meisten – das klingt jetzt ein wenig pathetisch – „in die Arme von Gott treibt“, das ist die menschliche Würde, dieser unantastbare Kern jedes menschlichen Wesens, der Achtung und Respekt verdient. Und das spüre ich ganz besonders dann, wenn diese Würde verletzt wird. Wenn ich von Gräueltaten vernehme, die Menschen anderen Menschen antun – und da müssen wir im Moment nicht weit weg suchen – dann bäumt sich in mir etwas auf: Das darf nicht das letzte Wort sein, dass die Opfer einfach Pech gehabt haben und die Täter ungeschoren davonkommen. Oder wenn ich von selbstlos Pflegenden höre, die Ebola-Patienten beistehen und dabei selber angesteckt werden, dann will und kann ich nicht glauben, dass die innerweltliche Wirklichkeit das Einzige ist, das es gibt. Dann wird mir klar: Im Gespür für die menschliche würde zeigt sich das göttliche Licht, das wir in uns tragen. Wir sind nicht bloss hoch entwickelte Zellhaufen.

Vermutlich ist jeder von uns auf dem Weg mit Zweifeln und Glaube, zwischen gläubig aufstehen und als Atheist zu Bett gehen. Mir hilft dabei besonders der Austausch mit anderen Weggefährten, Gemeinschaft im Glauben, das Feiern des Glaubens.

So verabschiede ich mich vom Wort zum Sonntag mit ein wenig „Schleichwerbung“ für die Chance christlicher Gemeinde und Kirche: Sie können – mitten in allen Zweifeln – Mut machen zum Glauben.

Adieu und: Einen sinnerfüllten Bettag!

Schweizer Fernsehen, Wort zum Sonntag vom 20.09.2014