Die gefährlichste Initiative, die es je gab
CVP-Nationalrätin Barbara Schmid-Federer bringt die Problematik der Durchsetzungsinitiative auf den Punkt: „Das ist die gefährlichste Initiative , die es je gab.“
«Die Durchsetzungsinitiative schiesst komplett am Ziel vorbei: Sie würde de facto Fremdenfeindlichkeit in die Verfassung schreiben.» Barbara Schmid-Federer
Nach den Übergriffen in der Silvesternacht von Köln fordern die Befürworter der Durchsetzungsinitiative: «Jetzt erst recht, alle straffälligen Ausländer raus!»
Selbstverständlich sind sexuelle Übergriffe nicht tolerierbar, weder in Köln noch in Zürich. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, egal ob Ausländer, Deutsche oder Schweizer. Das gilt für alle – und für alle gleich.
Die Durchsetzungsinitiative ist aber schlicht keine Antwort auf die Übergriffe in Köln, denn sie schiesst komplett am Ziel vorbei: Sie würde de facto Fremdenfeindlichkeit in die Verfassung schreiben.
Undifferenzierter Automatismus ist verheerend
Das grösste Problem dieser Initiative ist der Automatismus: Niemand darf mehr überprüfen, ob eine Ausschaffung verhältnismässig ist oder nicht. Dies trifft insbesondere Secondos hart, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind. Kriminelle Ausländerinnen und Ausländer werden nach geltendem Recht bereits heute ausgeschafft. Nun soll dies unabhängig von der Schwere des Delikts gelten, auch bei Bagatelldelikten wie des Vergessens des Ausfüllens eines AHV-Formulars.
Familien werden auseinandergerissen
Die Initiative ist gnadenlos unbarmherzig. Sie reisst Familien auseinander: Kinder werden vom Vater oder von der Mutter getrennt. Frauen und Männer mit oder ohne Schweizer Pass werden quasi über Nacht zu Alleinerziehenden gemacht. Die elementarsten Menschenrechte der ausgeschafften Person und ihrer Angehörigen werden nicht berücksichtigt.
Die Durchsetzungsinitiative ist die gefährlichste Initiative , die dem Schweizer Volk je vorgelegt wurde. Als Christin kann ich dazu nur «Nein» sagen – erst recht im Jahr der Barmherzigkeit.
Barbara Schmid-Federer ist seit 2007 Nationalrätin und aktuell Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit sowie der Gerichtskommission des Nationalrates. Sie ist Präsidentin der Arbeitsgruppe Familienpolitik der CVP Schweiz und Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes im Kanton Zürich. Sie setzt sich vehement für ein Nein zur Durchsetzungsinitiative ein.
Dieser Beitrag ist auch erschienen in f orum Nr. 3/2016 vom 29.01.2016
Der menschenverachtende Ausweisungsautomatismus, der die persönliche Situation der Betroffenen, die Schwere der Tat und das Verschulden überhaupt nicht berücksichtigt, spricht «Ausländern» ihre Menschenwürde ab. Die Initianten sehen in sogenannten «Ausländern» eine blosse Manövriermasse: Menschen zweiter Kasse, die nach Lust und Laune (der «Volkswille» sei ja ganz frei) wieder wegschickt werden können. Dass es sich bei den meisten «Ausländern» um Mitglieder unserer Gesellschaft handelt, um unsere Mitmenschen, um Freunde, Ehepartner, Eltern und Kinder, blenden die Initianten aus. Demokratie ist nicht Selbstzweck, Selbstzweck ist der einzelne Mensch. In einer reifen, zivilisierten Demokratie, in der «die Demokratie» und «das Volk» nicht zu Götzen verklärt werden, geniessen alle Menschen Anspruch auf Freiheit, Würde und gerechte Behandlung. Der individuelle Einzelfall muss immer berücksichtigt werden. Eine besondere Verantwortung bezüglich der Einhaltung des Respekts vor jedem Menschen tragen wir für Mitmenschen im eigenen Herrschaftsbereich. Für die SVP ist das Individuum nichts, das Volk alles. Wir kennen diese Position aus der Geschichte. Wer Angehörige von Minderheiten unterdrückt oder ihnen gleiche Rechte und gleiche Würde abspricht, missachtet den obersten Wert der Demokratie. Damit wird auch die Demokratie wertlos. Manche sprechen sich für die unverhältnismässige Durchsetzungsinitiative aus, weil sie schlicht weniger Ausländer wollen. Für solche Leute ist es im Gegenteil verhältnismässig, nur die kriminellen Ausländer loszuwerden. Da helfen dann alle Argumente nichts. Die Unterscheidung zwischen «wir» und «die anderen» bildet Grundlage und Grenze ihres Denkens. Erst recht nicht verstanden wird, wer dann noch die Grundlagen und Grenzen der Demokratie anspricht. Solchen Bedenkenträgern wird in kompletter Verkennung des Gehalts des Begriffes «Demokratie» (verstanden als Staatsform) unterstellt, die Demokratie abschaffen zu wollen – ganz egal, ob zu den Bedenkenträgern Rechtsprofessoren, Richter oder Intellektuelle gehören, also nicht Ahnungslose, Unerfahrene und Ungebildete. Sollten angesichts solcher Autoritäten doch gewisse Zweifel am eigenen Standpunkt und an der eigenen Auffassungsgabe aufkommen, werden sie mit Verschwörungstheorien beseitigt («die Elite hat sich gegen die Demokratie verschwört»). Man will sich schliesslich in seiner Angst- und Schamabwehr nicht stören lassen, welche Sündenböcke als Projektionsflächen brauchen. Das Problem hat nur bedingt mit fehlender Bildung zu tun, dieses Fehlen erleichtert nur (aber immerhin) die Abwehr der Störung. Anwürfe wie «Demokratieverächter» oder «heimatmüder Landesverräter» sind wohl der Grund dafür, dass noch zu viele schweigen, obwohl es nötig wäre, dass sie ihre Stimme erheben. Denn hängen bleibt der Schmutz. Solchen Unannehmlichkeit zum Trotz muss endlich ausgesprochen werden, dass auch eine Demokratie Grundlagen und Grenzen hat. Grundfreiheiten, Sozialrechte, Minderheitenschutz, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht sind gleichrangige Grundsätze oder Strukturprinzipien unserer Verfassung. Demokratie (verstanden als Strukturprinzip) ist ein Rad im Räderwerk Demokratie (verstanden als Staatsform). Mit der Überhöhung der Demokratie wird unsere ganze Staatsform auf eines ihrer Strukturprinzipien reduziert. Es muss in Erinnerung gerufen werden, dass ein freiheitlich-demokratischer, gewaltenteiliger, völkerrechtlich eingebundener Rechtsstaat nur Demokratie heisst, aber noch vieles mehr ist.
SUMMUM IUS SUMMA INIURIA
'Eine übersteigerte Handhabung des Rechtes ist ein übersteigertes Unrecht'. Das war für den Römer Cicero Jahrzehnte vor Christi Geburt bereits eine feststehende Erfahrung, und sie hat von ihrer Gültigkeit über Jahrtausende nichts eingebüsst.
Nur die Würdigung des einzelnen Falles sichert die Würde der Menschen: jene der urteilenden Richter, der vollziehenden Beamten, des zuschauenden Publikums und der betroffenen Sträflinge.
Sagen Sie also NEIN zu blindem Schematismus! André Füglister
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