Kirche aktuell

Das moralische Dilemma

Das moralische Dilemma
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
29. Januar 2014

Die Abtreibungs-Initiative offenbart bei genauerem Hinsehen ein Zuwenig an christlicher Solidarität. Eine einfache Antwort kann es nicht geben, und am Schluss steht ein Gewissenentscheid.

 «Ich will nicht gezwungen sein, etwas mitzufinanzieren, das ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann.» So oder ähnlich lauten Argumente der Befürworterinnen und Befürworter der Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache». Es geht bei dieser Frage also nicht um das Geld, sondern um die Moral.

Ein Gewissenentscheid muss erarbeitet sein

Das Gewissen ist in moralischen Fragen für einen Menschen die letzte und wichtigste Instanz. In diesem Sinne ist ein Mensch verpflichtet, seinem Gewissen zu folgen. Gewissensentscheide setzen jedoch einige Arbeit voraus. Dazu gehört die Klärung, wer für mich wofür Autorität ist, welche Werte mir wichtig sind und wo und wie ich mich bei andern Entscheidungen auf das Gewissen berufe. Schliesslich haben im religiösen Kontext Gewissensfragen immer auch mit meinem Gottesbild zu tun: Ist Gott mein Kumpel, wird er in der Regel beide Augen zudrücken, und mein Gewissen ist zufrieden, solange ich es gut meine; wenn aber Gott ein strenger Richter mit ebenso strengen Gesetzen ist, wird mein Gewissen gehorsam sein, nie zufrieden und macht mich zum schuldbeladenen Menschen. Kurz und gut: Passen wir auf, dass wir uns nicht zu schnell von andern schwierigen moralischen Fragen verabschieden, wenn wir uns auf das Gewissen berufen.

Schwangerschaftsabbruch ist ein Übel

Ich kenne niemanden und keine offizielle Position, die einen Schwangerschaftsabbruch für eine gute Sache hält. Für alle ist er ein Übel, das, wenn immer möglich, zu vermeiden ist – für die einzelne Frau, das Paar und auch für die Gesellschaft. Für die katholische Kirche wie auch für andere christliche Überzeugungen handelt es sich um die Tötung eines unschuldigen Menschen und ist darum verwerflich. Weil aber trotz bester Rahmenbedingungen Übel nicht aus der Welt zu schaffen sind, müssen zusätzliche Kriterien für eine ethische Beurteilung hinzugezogen werden. Anders gesagt: Die Kirche sieht im Schwangerschaftsabbruch ein Übel, aber sie sieht auch, dass die moderne Gesellschaft wie auch der moderne Staat anderen Gesetzmässigkeiten folgen, in der Schweiz z. B. den demokratischen Entscheiden des Stimmvolkes.

Kriterien für einen Gewissensentscheid

In diesem Sinne ist zu fragen, wie kann möglichst viel Unheil vermieden werden? Hier muss sich die Kirche an ihrem Solidaritätsverständnis orientieren, aber auch an der Verhältnismässigkeit, der Sachgerechtigkeit und an den Folgen. Diese Kriterien sind denn auch für einen Gewissensentscheid im Sinne der Kirche von entscheidender Bedeutung. Doch damit ist noch nicht alles gesagt. Die eben genannten Kriterien gehen über eine rein individuelle Beurteilung hinaus, denn sie wissen, dass nicht alles, was individuell, für den einzelnen Menschen verwerflich ist (z. B. Drogenkonsum), durch das Gesetz zwangsläufig verboten werden muss. Denn mit einem Verbot werden unter Umständen mehr Übel geschaffen als verhindert, indem etwa Menschen kriminalisiert werden.

Gretchenfrage: Wie steht es um die Solidarität?

Bei dieser Abstimmung lautet das moralische Dilemma nicht „Schwangerschaftsabbruch ja oder nein?“, sondern „Wie halte ich es mit der Solidarität?“.

Solidarität heisst Einstehen für Arme und Benachteiligte, und zwar auch dann, wenn es mir persönlich nichts bringt oder mich sogar etwas kostet. Solidarität verlangt darum auch Toleranz gegenüber Menschen und ihren Entscheiden. Andernfalls könnte ich auch das Bezahlen von Steuern verweigern mit Hinweis darauf, dass mit meinen Steuergeldern etwas Schlechtes getan wird. Anders gesagt: Vor lauter moralisch guten Absichten und Bezug auf das Gewissen schadet die Initiative jenem Kreis von Frauen, die gerade durch das Gesetz eine gewisse Besserstellung innerhalb ihres Umfeldes/Familie erhalten und die wirklich auf Solidarität angewiesen sind.

Die Sensibilisierung und der Einsatz für den Schutz des Lebens gehört unbestritten zu den christlichen Kernaufträgen. Doch dieser Schutz ist nach der Geburt noch entschiedener geboten!
Er bedeutet nämlich

  • Einsatz für gerechte Wohnmöglichkeiten für Familien,
  • Bildungsmöglichkeiten für wirklich alle,
  • Zugang zu Ausbildung und Schutz vor Ausbeutung.

Ich meine, all dies blendet die Initiative aus und macht sich die Sache zu einfach. Deshalb führt sie in die falsche Richtung. Lassen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, all diese Aspekte in Ihre Entscheidungsfindung einfliessen. Schlafen Sie drüber. Und dann dürfen Sie – sofern nötig – von einem Gewissensentscheid sprechen.

Schweiz am Sonntag, 26.01.2014