Kirche aktuell

Christen und Altes Testament - Ein Widerspruch?

Christen und Altes Testament - Ein Widerspruch?
Pfarrer in Winterthur
Hugo Gehring
Hugo Gehring
11. September 2015

Als Reaktion auf die Äusserungen des Churer Bischofs in Fulda zum Thema Homosexualität mit Zitaten aus dem 3. Buch Mose oder Leviticus hat mich ein mir gut bekannter Mann, der mit einem Mann zusammenlebt und sich ausdrücklich als Christ versteht, per Mail angefragt:

„Kurzum, ich weiss nicht, warum das Alte Testament überhaupt noch ‚Relevanz‘ für uns Christen hat. Das hat teilweise mit meinem Gottesverständnis wenig zu tun. Wenn Du mir zum Alten Testament etwas Klärendes/Einordnendes hast, bin ich dankbar.“

Hier, wie ich ihm zu antworten versuchte.

 Gott offenbart sich durch das Ganze der Wirklichkeit

Die weiteste Frage lautet: Wie offenbart sich überhaupt Gott? Meine weite Antwort: durch das Ganze der Wirklichkeit.

Für dieses Durchscheinen Gottes durch das Ganze der Wirklichkeit gibt es besonders feinfühlige Menschen, die fähig sind, Gottes Offenbarung ins Wort zu bringen.

Darin liegt für mich das Phänomen des Prophetischen begründet, das in allen Religionen auftritt (zum Teil mit anderen Bezeichnungen). Es gibt offenbar auch Menschen, die zu den göttlichen Kraftquellen einen besonderen Zugang haben: Heiler, Schamanen etc. Natürlich treten auf diesem Gebiet auch immer Scharlatane und falsche Propheten auf.

Wenn solche ausserordentliche Begabungen bei einem Menschen in ganz starkem Mass zusammenkommen, wird er unter Umständen ein Religionsstifter. In diese Sicht gehört für mich Jesus (natürlich auch Mohammed und Buddha und viele andere). Die Christen haben daraus den Höchstfall der Offenbarung gemacht:

Er spricht nicht nur über das Göttliche, das er wahrnimmt, und handelt nicht nur aus göttlicher Kraft, er ist die Offenbarung, weil sich in ihm Gott vollends zeigt.

Ich würde diesen Superlativ der ersten Christen heute etwas relativieren und durch ein „sehr“ ersetzen: Gott spricht nicht am deutlichsten durch Jesus, sondern sehr deutlich oder besonders deutlich (dann gibt es keinen Religionskrieg wegen des Absolutheitsanspruches).

Und Jesus ist gläubiger Jude gewesen und hat selber das Alte Testament gekannt und weitgehend danach gelebt,

  • es zum Teil aber auch radikalisiert („Ich aber sage euch“ in der Bergpredigt),
  • manchmal auch relativiert (z.B. das Steinigungsgebot gegenüber einer Ehebrecherin)
  • oder umgedeutet (z.B. Reinheits-/Unreinheitsregeln).

Daher haben Christen einen Zugang zum Alten Testament auch als Verstehensvoraussetzung für Jesus. Wir sind auch als Heidenchristen durch Jesus in eine Glaubenstradition hineingenommen, zu der das Glaubenszeugnis des Volkes Israel gehört. Paulus schreibt darüber drei Kapitel im Römerbrief (Röm  9 – 11).

Aber wir sind nicht wörtlich an das Alte Testament gebunden und schon gar nicht fundamentalistisch.

Was ist die Heilige Schrift?

Ich kann es noch von einer anderen Seite her angehen.  Was ist die Heilige Schrift? Nach unserer Interpretation ist sie nicht die Offenbarung selber, sondern das sprachlich vielfältige Zeugnis von der Offenbarung (leider behauptet der klassische Islam, der Koran sei die Offenbarung). Gott offenbart sich nicht in einem Buch, sondern in der Geschichte (z.B. im Auszug aus Ägypten ins Gelobte Land), durch Menschen (Moses, Richter, Propheten, Weisheitslehrer, am umstrittensten durch Könige), und schliesslich auch durch Weisungen, die von religionsstiftenden Menschen als der Wille Gottes gedeutet und vom betreffenden Volk als solchen anerkannt wurden. Kein Gebot fiel vom Himmel. Alle sind Menschenworte, in denen sich „vielleicht“ etwas vom Willen Gottes kundtut. Zu solchen Weisungen gehören die von Bischof Huonder zitierten Verse aus dem Buch Leviticus zum Thema Homosexualität.

Hans Küng hat im „Weltethos“ herauskristallisiert, dass alle Kulturen vier Bereiche mit Weisungen (Geboten, Verboten) regeln:

  • den Schutz des Lebens,
  • das Liebesverhalten,
  • den Umgang mit der Wahrheit
  • und dem Eigentum.

Inhaltlich liegen die kulturellen Anweisungen weit auseinander (ausser dem Inzestverbot, das transkulturell vorhanden ist), aber kein Volk überlässt die vier Bereiche einfach dem freien und spontanen Handeln der einzelnen Mitglieder; überall gibt es da Einschränkungen.

Es gibt keine ewig gültige Weisungen

Jede Weisung muss darauf hin untersucht werden, in welchem geschichtlichen Moment sie Gültigkeit beansprucht hat, unter welchen Umständen, mit welchem Ziel usw. usf. Es gibt keine ewig gültigen Weisungen oder „in sich“ verwerfliche Taten. Darum ist es völlig unangemessen, so eine Weisungen aus einem Dokument vor 2500 – 2700 Jahren als bleibender Wille Gottes anzusehen. Damals haben die Menschen ihre Situation so gedeutet, evtl. missdeutet, und den Willen Gottes dafür gesucht. Das ist zunächst von historischem Interesse. Der Inhalt solcher Weisungen muss sich notwendig im Laufe der Zeit entwickeln, verändern, weil andere, neue Erkenntnisse dazukommen, andere Umstände u.v.a.m.

Einen statischen Willen Gottes, ein objektives Sittengesetz kann es nie geben (ausser vielleicht der „Goldenen Regel“). Da ist immer alles im Fluss.

Was sagt die Bibel zum Thema Autofahren, Umgang mit analogen und digitalen Medien, Umweltschutz, Eroberung des Weltalls etc.? Welchen Einfluss hat der Fortschritt des Wissens auf die Ethik?

In diesem Sinn ist die riesige Gesetzessammlung des Alten Testaments heute praktisch nicht von konkreter Relevanz. Schon die zehn Gebote sind deutungsbedürftig (im 10. Gebot z.B. ist die Ehefrau ein Beispiel von Besitz – zeitlos gültig?).