Kirche aktuell

Auch halbe Wahrheiten können lügen

Auch halbe Wahrheiten können lügen
Leiter Ressort Pastoral Generalvikariat
Rudolf Vögele
Rudolf Vögele
30. Juni 2014

Die Aussagekraft von Statistiken ist verfänglich. Sie bildet nur einen Teil der Wirklichkeit ab, ist also nur eine „halbe Wahrheit.“  So auch die Kirchenstatistik 2013 des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts  St. Gallen (SPI) –

Obst ist mehr als Äpfel und Birnen

Treffend schreibt der Herausgeber Dr. Arnd Bünker:

„Man soll nicht Äpfel mit Birnen vergleichen! Die Kirchenstatistik bildet nicht ganze Kirche ab und versucht es auch nicht. Kirche ist mehr als die Summe ihrer messbaren Faktoren.“

Als „Äpfel“ zählen dabei jene Erfassungen von Kirchenmitgliederzahlen, Anzahl der Aus- und Wiedereintritte, der Taufen, Hochzeiten usw. Und als „Birnen“ können jene Daten angesehen werden, die in dieser Kirchenstatistik des SPI nicht erfasst sind, wie

  • soziale und caritative Leistungen,
  • unzählige Stunden freiwilligen Engagements,
  • kulturelle Beiträge und vieles mehr.

Der Obstkorb Kirche ist noch viel reichhaltiger

Ein kleiner Einblick in einen Teil meiner Aufgaben als Verantwortlicher für das Ressort Pastoral des Generalvikariats soll genügen, um dies zu verdeutlichen:

Ich gebe einen Kurs für Menschen, die sich für den katholischen Glauben interessieren, die (wieder) katholisch werden wollen oder sich einfach nur dafür interessieren, was (heute) „katholisch“ im umfassenden Sinn ist. Wegweisend haben wir diesen Kurs «Glauben suchen – Halt finden» benannt. Wir können dabei statistisch belegen, dass an diesen – mittlerweile schon sieben Kursen – über 100 Teilnehmende zu verzeichnen und 40% davon tatsächlich (wieder) in die katholische Kirche ein- oder übergetreten sind. Von den tiefsinnigen Gesprächen an diesen Abenden und Nachmittagen, von den sehr individuellen Begleitungen oder auch sehr persönlichen Entwicklungen kann keine Statistik Auskunft geben.

Oder auch in Bezug auf die Notfallseelsorge: mit meinen reformierten Kollegen in der ökumenischen Notfallseelsorge Zürich kann ich angeben, dass dieses seelsorgerliche Angebot für Menschen in akut traumatischen Situationen (wie nach einem Suizid, Kindstod, Verkehrsunfall usw.) in den letzten sieben Jahren seit Bestehen ständig mehr angefordert wurde – 2013 waren es erstmals über 200 Einsätze mit mehr als 500 Einsatzstunden. Was aber wirklich bei diesen Begleitungen geschieht und wie sehr vielen Betroffenen dadurch geholfen wird, eine langfristige posttraumatische Belastungsstörung zu umgehen, darüber berichtet keine Statistik.

Statue am Hafen von Waren (Müritz) Vater umarmt Sohn

Statue Barmherziger Vater FOTO Rudolf Vögele

Kirche jenseits ihrer Zahlengaben

Die Medien interessieren sich überwiegend für harte Fakten. Und noch besser ist es, wenn diese mit einer gewissen Dramatik gewürzt werden können – wie beispielsweise die Häufung der Kirchenaustritte in den Jahren 2010 und 2011 im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch durch Kleriker. Dieses mediale Bild der (katholischen) Kirche prägt dann auch das Denken und Handeln von Menschen, die ihre Informationen nur aus solchen Quellen beziehen.

In seinem apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium äussert Papst Franziskus einen bemerkenswerten Gedanken zum „Blick der Nähe“:

«In einer Zivilisation, die an der Anonymität leidet und paradoxerweise zugleich, schamlos krank an einer ungesunden Neugier, darauf versessen ist, Details aus dem Leben der anderen zu erfahren, braucht die Kirche den Blick der Nähe, um den anderen anzuschauen, gerührt zu werden und vor ihm Halt zu machen, so oft es nötig ist…». Papst Franziskus

Aber nicht nur die Kirche braucht diesen «Blick der Nähe». Auch jede und jeder, der sich ein Bild von Kirche machen will, muss sich darum bemühen, muss erkennen wollen, dass die Kirchen – jenseits ihrer statistischen Zahlen – viel mehr zu bieten haben. Und dadurch kann auch die Erkenntnis reifen, dass diese Angebote, besonders auch ausserhalb oder neben den offiziellen Dienstleistungen wie Gottesdienste, Sakramenten- oder Segensspendungen, nicht nur gerne angenommen, sondern meisten falls auch als heilsam erfahren werden. Dazu müsste man beispielsweise nur einmal im November an der überkonfessionellen Gedenkfeier für verstorbene Kinder im überfüllten Grossmünster oder in der Liebfrauenkirche teilnehmen, um dies zu sehen und zu erleben.

Die ganze Wahrheit über die Kirche…

… kennt keine und keiner, weil wir alle – wenn auch mit noch so viel Empathie und Wohlwollen – immer nur Teile des Ganzen wahrnehmen. Deshalb rate ich, vor aller Fixierung auf statistische Zahlen, zur Vor-Sicht: es könnte ja sein, dass man die Kirche irgendwann einmal ganz anders erlebt als zum Davonlaufen…