Kirche aktuell

AHV und die Frage unserer Werte

AHV und die Frage unserer Werte
Leiter sozialethisches Institut «ethik22» in Zürich
Thomas Wallimann-Sasaki
Dr. theol. Thomas Wallimann-Sasaki ist Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22» in Zürich, Präsident a.i. der sozialethischen Kommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz und Dozent für angewandte Ethik an verschiedenen Fachhochschulen.
Thomas Wallimann-Sasaki
19. September 2016

Die anstehende AHV-Abstimmung führt, jenseits der meist im Zentrum stehenden Debatte zur Finanzierung, auch zur Frage nach den Werten, die unser Zusammenleben tragen sollen. Ein Beitrag dazu aus sozialethischer Sicht.

AHV und Pensionskasse sind verschiedene Paar Schuhe!

In der Diskussion um die anstehende AHV-Abstimmung müssen wir die verschiedenen Formen der Altersvorsorge klar auseinander halten. AHV und Pensionskassen dürfen nicht in den gleichen Topf geworfen werden.

Denn das Umlageverfahren (AHV) und das Kapitaldeckungsverfahren (Pensionskasse) sind zwei grundsätzlich verschiedene Paar Schuhe.

Beim ersten zahle ich als Lohnempfänger JETZT für die JETZIGE pensionierte Generation – also meine Eltern und Grosseltern-Generation. Bei der Pensionskasse bezahle ich JETZT für MORGEN – und zwar nur für mich selber.

Selbstverantwortung ist gefragt

Damit zeigen die erste und zweite Säule auch zwei Seiten der Zukunftssicht und -verantwortung: Die Pensionskasse wie auch die 3. Säule bauen auf Selbstverantwortung auf. Dabei ist in der 3. Säule die Selbstverantwortung mehr oder weniger allein in meinen Händen (sofern ich genug Einkommen habe), und der Staat gibt mir mit dem Steuerabzug einen Anreiz. In der zweiten Säule, der Pensionskasse, verpflichtet mich die Allgemeinheit – vertreten durch den Staat – zur Zukunftssicherung. Ich kann – ab einem gewissen Einkommen – gar nicht anders als Sparen. Zudem ist auch meine Arbeitgeberin verpflichtet.

AHV: Ehre Vater und Mutter!

Die AHV hingegen funktioniert nicht nach diesem Prinzip. Die AHV betont jene Solidarität, die jenen Hilfe zukommen lässt, die jetzt Hilfe nötig haben. In der AHV bezahle ich jetzt für die Bedürfnisse der jetzt älteren Menschen!

In der AHV kommt also eine Grundhaltung zum Ausdruck, die wir in der jüdisch-christlichen Tradition als 4. Gebot kennen: Ehre Vater und Mutter! Dieses vierte Gebot – auch in vielen anderen Kulturen als tragende Säule einer funktionierenden Gesellschaft bekannt – bringt zum Ausdruck, dass wir auf einander angewiesen sind.

Es macht deutlich, dass wir über Generationen vernetzt sind und für einander Sorge tragen sollen. Wie wir das „organisieren“, ist unserer Phantasie überlassen.

In der Geschichte und bis heute kennen wir die Familien als Kern dieser Umsetzung. Mit der Entwicklung hin zu mehr individuellen Freiheiten und der veränderten Familienverhältnissen ist die AHV nichts anderes als die – in meinen Augen grossartige – Antwort auf die gesellschaftliche Entwicklung. Die AHV hält nämlich am Grundgebot fest, dass die Jungen gegenüber den Alten eine Sorgepflicht haben.

Die AHV akzeptiert aber auch, dass die Familien heute nicht mehr wie früher funktionieren und wir individuelle Freiheiten errungen haben, die viel wert sind. Darum verteilt die AHV die Verpflichtung der Alterssorge auf alle (!) jungen und erwerbstätigen Menschen.

Die AHV fusst auf einem Hand-in-Hand-Denken, der gegenseitigen Sorge der Generationen füreinander.

Auf welchem Wertboden stehen wir?

Die Debatte zur AHV-Abstimmung führt darum direkt zur Debatte, welche Werte und welche moralischen Normen unser Zusammenleben tragen bzw. tragen sollen.

Auf den Punkt gebracht heisst dies:

  • Wollen wir eine Gesellschaft, in der das Eigennutzen-Denken und wirtschaftliche Prinzip des Nutzen-Rechnens mehr oder weniger allein darüber bestimmt, was richtig und falsch, gut oder auch böse ist?
  • Oder wollen wir eine Gesellschaft, in der Solidarität prägend ist? Die daran erinnert, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, aufeinander angewiesen sind und damit auch eine Verpflichtung haben, für einander zu sorgen ohne starren und primären Blick auf das eigene Portemonnaie?

Und die christlichen Werte?

Und da sich zur Zeit ja viele auf die christlichen Werte berufen noch dies: Es wird wohl nicht überraschen, dass eine christliche Wertorientierung als Grundlage menschlichen Zusammenlebens die Solidarität hat. Das zeigt ein Blick in die biblischen Geschichten, die Botschaft Jesu und eine trotz Umwegen doch klare Tradition.

Damit ist die entscheidende Frage in Bezug auf die Abstimmung über die AHV aus christlicher Sicht bestimmt nicht jene, ob es für mich rentiert, wenn ich die AHV einbezahle, sondern jene, wer denn die Benachteiligten bei einem Ja oder Nein zur Vorlage sind.

Dann wird auch deutlich, dass „Rendite“ und „Eigennutzen“ auf einem christlichen Wertboden schlecht oder kaum gedeihen sollten. „Umverteilung“ ist kein Schimpfwort, sondern zum Ausdruck bringt, dass wir aufeinander angewiesen sind. Die christlichen Werte zeigen sich also bereits im Sprachgebrauch. Auf diesen zu achten, ist darum gar nicht so schlecht.

Wie wir eine solidarische und tragfähige Vorsorge konkret organisieren, ist die grosse Herausforderung, der wir uns immer wieder stellen müssen. Da kann es natürlich unterschiedliche Einschätzungen und Antworten geben. Entscheidendes Kriterium muss für uns Christen aber das Wohl der Schwachen sein.