Kirche aktuell

50 Jahre Kirche leben und sein

50 Jahre Kirche leben und sein
Kerstin Lenz
Kerstin Lenz
02. September 2015

Andreas Rellstab heisst seit letztem August der neue katholische Pfarrer in Maria-Krönung Witikon. Als Seelsorgeraum-Pfarrer ist er als Hirte auch für die Kirchgemeinde St. Anton in Hottingen zuständig: in Hottingen für knapp 6000, in Witikon für knapp 3000 Katholikinnen und Katholiken. Die Kirche in Witikon wurde in diesen Tagen vor genau 50 Jahren geweiht. Andreas Rellstab ist 48 Jahre alt, in Wädenswil aufgewachsen, und er studierte Theologie in Chur, Paris und Rom. Ein Gespräch über Pfarrer-sein, Kirche und die Sakramente.

Pfarrer Andreas Rellstab Foto: Christoph Wider

Pfarrer Andreas Rellstab
Foto: Christoph Wider

Welches Fazit ziehen Sie nach dem Jahr als Seelsorgeraum-Pfarrer?

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich zurecht gefunden habe, herausgefunden habe, wer genau wo arbeitet. Ich habe nur schon in Witikon drei reformierte Pfarrpersonen als Partner in der Ökumene, in St. Anton vier. Meine Aufgaben halten mich 60 und mehr Stunden in der Woche auf Trab. Das ist für mich in Ordnung. Denn dies hier ist meine Pfarrei – meine Familie. Inzwischen bin ich angekommen, ich fühle mich insgesamt sehr, sehr wohl.

Wie erleben Sie die beiden Pfarreien – St. Anton und Maria-Krönung?

Witikon ist ein in sich geschlossenes Quartier mit dörflichem Charakter und überschaubar. Es gibt unmittelbare Rückmeldungen an mich als Pfarrer und so auch direkten Kontakt. Die Leute kennen sich untereinander besser. Ich kenne wiederum die Leute, die in die Gottesdienste kommen, inzwischen zumindest vom Sehen. Das ist in St. Anton nicht gleich der Fall. Die Kombination mit dem Seelsorgeraum ist eine grosse Herausforderung für mich und nicht zu vergleichen mit meiner vorherigen Teilzeitstelle als Pfarrer in Zizers in Graubünden.

Nebst Pfarrer in Zizers waren Sie auch Generalvikar in Chur – was sagen Sie zu den Aussagen des Bischofs in den vergangenen Wochen?

Die Aussagen von Bischof Huonder in seiner Rede in Fulda waren inadäquat, kurzsichtig und peinlich. Sie haben viele Menschen verletzt. Sie haben dem Ansehen der katholischen Kirche in unserem Bistum, in der Schweiz und mittlerweile auch im Ausland geschadet. Seine Aussagen wirken sich in der Pastoral immer verheerender aus. Die Situation wird immer unerträglicher.

Womit sind Sie als Pfarrer im Seelsorgeraum hauptsächlich beschäftigt?

Der Managementanteil für beide Pfarreien ist recht hoch. Zudem führe ich sehr viele seelsorgerliche Gespräche zum Beispiel für Beerdigungen oder auch für Hochzeiten. Vor jeder Hochzeit – ungefähr 10 im Jahr – führe ich mit dem Paar vier Gespräche. Wir gehen gemeinsam einen kleinen Glaubensweg. Die Paare können erst gar nicht genau formulieren, warum sie überhaupt heiraten wollen.

Hat sich schon einmal ein Paar nach einem Gespräch mit Ihnen entschieden, nicht kirchlich zu heiraten?

Ich habe bisher zwei Paaren empfohlen, auf das Heiraten in der Kirche zu verzichten. Ein Paar war schon etwas älter und war völlig überrascht, dass ich mit ihm über den Glauben reden wollte. Das zweite war ein junges Paar, das mit dem Glauben wirklich gar nichts zu tun hatte. Ihm habe ich eine Segensfeier vorgeschlagen. Im ersten Gespräch für die Ehevorbereitung fordere ich das Paar heraus und provoziere ein wenig. Dann kommen wir darauf zu sprechen, was eigentlich ein Sakrament ist.

Wie reagieren die Menschen auf Sie als Priester, der unter 65 Jahre alt ist?

Ich komme gern ins Gespräch mit Menschen, das ist unabhängig vom Alter: Ich habe Interesse am Menschen und höre zu. Ich kann als Pfarrer die Gebote und Regeln oder auch mehr den Spielraum betonen. Ich mag eher den Spielraum.

Wie sehr ist Gott im Alltag präsent für die Menschen in Ihrer Pfarrei?

Gott im Alltag zeigt sich in einer Lebenshaltung oder im Wertesystem. Wie äussert sich das? Mit einem Tischgebet, mit dem Kirchenbesuch? Es ist schon etwas da, wo die Menschen Halt suchen und Vertrauen haben. Viele sagen: Es gibt etwas, ich bin nicht allein, etwas, das mich hält.

Und: Gottesdienst feiern ist Teil des Christseins, man kann nicht Christ sein allein, es gibt eben auch eine christliche Gemeinschaft, die Rituale hat und die eine gemeinsame Sprache hat.

Als Pfarrer hätte ich es natürlich gerne, dass mehr Leute das so sehen. Wir können Kirche nur verstehen, wenn ich im Alltag Gott auch spüre. Aber ich verurteile niemanden. Ich freue mich, wenn Menschen gerne in die Kirche kommen. Der Gottesdienst soll ansprechen – nicht „Action“ sein.

Ich sage immer: „Herr, es ist Deine Kirche. Ich mache hier, was ich kann. Wenn Du mehr willst, musst Du Dich anstrengen.“

Sommer 2014 Abschied_Pfarrer A. Lüchinger

Wann ist ein Priester ein guter Pfarrer?

Das hängt nicht von der vollen Kirche ab. Ich möchte, dass die Menschen, die in die Kirche kommen, sich angesprochen fühlen und dann ermutigt und getröstet wieder heimgehen. Persönliche Rückmeldungen zum Beispiel mit Briefen nach Beerdigungen oder Hochzeiten oder in Gesprächen bei Apéros, die tun mir gut, und das ist mir auch wichtig, das ermutigt mich.

Auftritt mit dem Kinderchor Foto: Kerstin Lenz

Auftritt mit dem Kinderchor Foto: Kerstin Lenz

Die Beichte ist für viele ein schwieriges Sakrament…

Das Schuldbekenntnis in der Beichte ist ein Bekenntnis zur Grösse Gottes. Er bestärkt mich im Vertrauen, dass er sich von meiner Schuld nicht abhalten lässt, mich voll und ganz zu lieben. Sünde, die benannt ist, verliert an zerstörerischer Kraft. Wenn ich zugebe: „Das war nicht gut!“, bekenne ich, dass ich Gott brauche.

Viele sagen: „Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe nichts zu beichten“. Aber es geht darum zu fragen: Wofür lebe ich? Ohne jeden Selbstbetrug. Die Beichte ist wie eine Erneuerung, so etwas wie gute Vorsätze, aber mehr als einmal im Jahr.

Wann haben Sie gewusst, dass Sie Priester werden wollen?

Ich bin seit 22 Jahren Priester – also längst kein Anfänger mehr. Bei mir hat das in der Jugendzeit begonnen, in der Oberstufenzeit. Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Es hat durch verschiedene Umstände in der Jugend begonnen, dass wir uns in der Familie mit Religion beschäftigt haben. Vorher war es kein Thema. Ich war nie beten in der Kirche. Ich fand es interessant, als ich das erste Mal eine Bibel in der Hand hatte. Ich habe mich dann in der Jugendarbeit der Pfarrei engagiert. Habe die Bibel gelesen, bevor ich um 6.15 Uhr auf den Zug nach Zürich ins Gymi ging. Ich habe dann gesehen, dass das Themen sind, die mich interessieren. Kurz vor der Matura habe ich entschieden, Theologie zu studieren.

Wie war es, damals von Zürich nach Chur zu gehen?

Ich war ein Küken in Chur, noch nicht einmal 20 Jahre alt. Mit 26 bin ich dann schon geweiht worden. Nach den ersten Priesterjahren hatte ich eine richtige Krise. Das kennen viele Priester so.

Oft entscheidet sich erst nach der Weihe, ob man wirklich Priester ist. Nach den ersten Jahren von Seelsorge-Erfahrung, wenn man feststellt: Es hat niemand auf mich gewartet, ich bewege und bewirke nichts. Was will ich jetzt? Wofür lebe ich? Dann entscheidet es sich.

Ich bin nach Südafrika gereist. Der Abstand hat mir wieder Boden unter den Füssen gegeben. Als Priesteramtskandidat habe ich auf die Weihe gewartet. Das ist wahrscheinlich so wie beim Heiraten – eine Mischung aus Angst und Vorfreude. Es braucht eine Art Verliebtheit, um den Priesterberuf zu wählen, damit die Motivation nicht versiegt.

Direkte Frage zum Zölibat: Ist es für Sie Freiheit oder Einschränkung? Zölibat wirkt auf viele befremdlich.

Ich bekomme das wenig zu spüren. Die Jugendlichen im Oberstufenunterricht fragen schon, sehr direkt sogar, aber der Hintergrund interessiert nicht wirklich. Sie wollen nur wissen: Warum darf der Pfarrer keinen Sex haben? Und haben Sie schon mal Sex gehabt? Vertiefte Diskussionen gibt es kaum. In der Pfarrei ist es für viele etwas Exotisches und Ungewohntes, aber ich strahle hoffentlich nichts Depressives und Weltfremdes aus.

Man muss mit mir kein Mitleid oder Erbarmen haben. Das hält die Leute davon ab, zu vermuten: „ Ihnen ging es doch viel besser, hätten Sie eine Frau.“ Oder sie denken: „Der ist doch so normal – warum kann der denn nicht heiraten?“

Was ist denn die theologische Erklärung für das Zölibat?

Die sinnvolle Erklärung ist die Angemessenheitserklärung. Jesus war nicht verheiratet, Petrus hat seine Familie zurückgelassen, daher ist es angemessen. Selbstverständlich ist das nicht das einzige Kriterium für authentische Nachfolge Jesu.  Bei der Art und Weise, wie ich als Priester in der Pfarrei präsent bin, hätte eine Familie zu wenig Platz. Unsere Seelsorge müsste ganz anders aussehen, wenn Priester verheiratet wären. Meine Pfarrei ist meine Heimat und meine Familie.

Ist das nicht oft sehr anstrengend?

Zeiten des Rückzugs und der Erholung sind sehr wichtig. Ich kann mich aber gut in kurzer Zeit entspannen – eine ausgedehnte Siesta, eine Runde joggen oder genug Schlaf, reichen meist schon. Es gab schon Momente, wo es mir zu viel wurde. Ich ziehe mich jedes Jahr eine Woche für Exerzitien mit Priesterkollegen in Deutschland zurück. Ich habe auch einen geistlichen Begleiter, der die externe Sicht bringt.

Woher kommen die Ideen für die Predigten?

Ich gehe mit wachem Blick durch die Welt: Gespräche, Bilder, Filme inspirieren mich. Ich lese schon am Sonntagabend die Texte für den kommenden Sonntag. Ich brauche keinen ausgeschriebenen Text, sondern finde einen Gedanken, bei dem ich beginne und sich die Predigt entwickeln kann. Ich rede gern frei vor Leuten und wenn ich mich mal verspreche, dann fällt mir auch kein Zacken aus der Krone.

In diesen Tagen feiert die Pfarrei Maria Krönung 50 Jahr Jubiläum – wie gefällt Ihnen die damals erbaute Kirche?

Maria_Krönung_Witikon_Altarraum_Licht
Wenn die Sonne reinscheint, finde ich die Kirche Maria Krönung ganz wunderbar: Wie eine Höhle, in die man sich zurückzieht, mit warmem Holz und dem Licht, das überall hereinfällt. Etwas Majestätisches, ohne dass es erdrückend ist. Bei schlechtem Wetter oder bei Abendgottesdiensten empfinde ich die Kirche als sehr dunkel. Die konzeptionelle Idee von Architekt Justus Dahinden finde ich spannend: In der Mitte der Anlage die Liturgie mit der Kirche; Gemeinschaft, die Koinonia, die Diakonie mit dem Pfarreizentrum linker Hand, die Paulus-Akademie auf der rechten Seite mit der Theologie und der Verkündigung.

Ich freue mich auf das Jubiläum, das wird ein schöner Anlass. Viele Leute aus der Pfarrei haben viel Zeit und Aufwand betrieben, haben sich engagiert. Das schätze ich sehr. Es sind ja 50 Jahre gelebte Geschichte: Menschen, die dort ein- und ausgehen, sich austauschen, sich freuen, trauern, beten, die Kirche leben und Mensch sind.

Festwochenende für Gross und Klein in der Pfarrei Maria-Krönung am 5. und 6. September 2015 – alle Informationen hier!

www.maria-kroenung.ch